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Warum China kapitalistisch ist

Für einen anti-nationalistischen Anti-Imperialismus

Von Eli Friedman / Übersetzung Vidar Lindström

Der Text erschien zuerst im marxistischen Spectre Journal. Zur besseren Verständlichkeit wurden zu den wichtigsten Begriffen Artikel verlinkt. Alle Fußnoten sind vom Übersetzer, die original Nachweise sind im Artikel des Spectre Journal zu finden.


Das China des 21. Jahrhunderts ist kapitalistisch. Eine dramatische Transformation für ein Land, das gegen Ende der 1950er quasi das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft hatte, während es sich im folgenden Jahrzehnt an einigen der radikalsten politischen Experimente des zwanzigsten Jahrhunderts beteiligte. Trotz der umfassenden Reorganisation des Produktionsverhältnisses während der letzten 40 Jahre, behält die Kommunistische Partei (KPCh) ihr Machtmonopol und bleibt erklärtermaßen sozialistisch, wenn auch jetzt mit „chinesischer Prägung“.

Chinas kommunistischer Weg zum Kapitalismus hat unter Linken (sowohl in China als auch global) einiges an Verwirrung darüber gestiftet, wie der Stand der Dinge zu betrachten ist. Für eine antikapitalistische Praxis ist die Klärung dieses Themas wichtig, insbesondere in Anbetracht Chinas wachsender globaler Macht. Letztendlich geht es um die Frage, ob der chinesische Staat und seine Opposition zu einer US-geführten Ordnung, eine emanzipative Politik verkörpert. Wenn wir jedoch China so verstehen, dass es nicht versucht den Kapitalismus zu überwinden, sondern in einem Wettstreit mit den USA um die Kontrolle über das System feststeckt, müsste das zu einer ganz anderen Schlussfolgerung führen: wir müssen einen eigenen Kurs für eine radikale Befreiung setzen, unabhängig und in Opposition zu allen existierenden Staatsmächten.

Bekanntermaßen ist der Kapitalismus ein komplexes Konzept, ich kann deswegen hier nur ein paar Kernprobleme behandeln. Grundsätzlich ist er ein System, in dem menschliche Bedürfnisse der Wertschöpfung unterworfen sind. Diese Beziehung, wird über die Universalisierung der Marktabhängigkeit institutionalisiert, da die Warenform zum Vermittler zwischenmenschlicher Beziehungen wird. Diese Logik des Kapitals, manifestiert sich nicht nur in der ökonomischen Ausbeutung der Arbeit und der sie begleitenden klassifizierenden sozialen Beziehungen, sondern auch in den Formen der politischen Herrschaft am Arbeitsplatz, im Staat und darüber hinaus. Abgesehen von einigen wichtigen Abweichungen vom liberalen angloamerikanischen Model, werden wir sehen, dass China in allen Punkten kapitalistisch geworden ist.

Indikatoren für einen chinesischen Kapitalismus finden sich im Überfluss. Die Metropolen des Landes sind geschmückt mir Ferraris und Gucci-Läden, ausländische und einheimische Markenlogos prangen über der Skyline und in jedem größeren städtischen Kern, sind Luxus-Hochhäuser entstanden. Chinas rasche Evolution, von einem der Länder mit möglichst höchster ökonomischer Gleichheit weltweit, zu einem der Länder mit enorm niedriger ökonomischer Gleichheit, deutet auf größere strukturelle Verschiebungen hin. Wir könnten auch Chinas Mitgliedschaft in der WTO (Welthandelsorganisation), das anhaltende Beharren der Regierung darauf, dass es sich tatsächlich um eine Marktwirtschaft handelt, oder Xi Jinping, der in Davos die Globalisierung verteidigt und dafür eintritt, dass der Markt bei der Ressourcenzuteilung eine „entscheidende Rolle“ spielen soll, als Zeichen dafür ansehen, dass der Staat den Kapitalismus annimmt. In ähnlicher Weise kann man weit verbreitete kulturelle Ausdrucksformen finden, die auf eine zugrunde liegende kapitalistische Orientierung hindeuten. Darunter die Aufwertung harter Arbeit, ein krasses Konsumverhalten und die Verehrung des einzigartigen Genies von Unternehmenshelden wie Steve Jobs und Jack Ma.

Es wäre jedoch ein Fehler, solche Ausdrücke des Kapitalismus mit dem Kapitalismus selbst zu verwechseln. Um sich umfassender damit zu beschäftigen, wie das Kapital zum Orientierungsprinzip, sowohl für den chinesischen Staat, als auch für die chinesische Ökonomie, geworden ist, müssen wir etwas tiefer graben.

Ökonomie, Arbeit, soziale Reproduktion

Wenn wir eine radikale Kritik des Kapitals vorschlagen, könnten wir es wie Marx tun und mit der Ware anfangen. Eine Ware ist ein Ding, das nützlich für jemanden ist1 und einen Tauschwert enthält. Im kapitalistischen Produktionssystem dominiert der Tauschwert. Das heißt, dass der Profit und nicht die Nützlichkeit eines Produkts, die Warenproduktion bestimmt. Marx beginnt Das Kapital mit der Analyse der Warenform, weil er glaubte, dass es uns so möglich wäre, das kapitalistische System in seiner Gesamtheit zu ergründen.

Wenn wir das heutige China betrachten, steht außer Frage, dass die Warenproduktion universalisiert wurde. Das zeigt sich vor allem in den in China zentrierten transnationalen Lieferketten, in welchen chinesische Arbeiter und Arbeiterinnen in Fabriken ausgebeutet werden. Die Produktion von Handys, Autos, medizinischer Ausrüstung, Stoffen und Einrichtungsgegenständen hat Firmen in China wie im Ausland, reich gemacht und gleichzeitig einen noch nie dagewesenen Export-Boom erzeugt. Chinesische Tech-Giganten wie Tencent, Alibaba, Baidu und ByteDance, unterscheiden sich zwar von den Konzernen im Sillicon Valley in einigen wichtigen Punkten, aber allesamt arbeiten sie daran Technologie zu produzieren, die vor allem dazu dienen soll, Informationen zu kommodifizieren2. In ähnlicher Weise deuten wiederkehrende Immobilienblasen und äußerst profitable Bauunternehmen darauf hin, dass Wohnraum als Reaktion auf die sich bietenden Marktchancen produziert wird. In einer Vielzahl von Sektoren ist klar, dass die Produktion in erster Linie auf die Erzielung von Gewinn und nicht auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Während eine Analyse der Warenproduktion aufschlussreich ist, ist es politisch wirkungsvoller das Thema aus der anderen Richtung anzugehen: Anstatt zu fragen, was das Kapital verlangt, um seine eigene kontinuierliche Expansion zu gewährleisten, sollten wir uns fragen, wie die Menschen überleben. Wie also sichert das chinesische Proletariat – eine Gruppe von Menschen, deren einziges produktives Eigentum ihre eigene Arbeitskraft ist – seine eigene soziale Reproduktion? Die Antwort ist, wie in jeder anderen kapitalistischen Gesellschaft auch. Proletarier müssen einen Weg finden, sich an das Kapital zu binden, wenn sie leben wollen. Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Mobilität und Zeit für Freizeit und Geselligkeit sind nicht selbstverständlich garantiert. Vielmehr kann die überwiegende Mehrheit der Menschen in China solche Dinge nur sichern, wenn sie sich für das Kapital nützlich machen können.

Die chinesische Gesellschaft ist natürlich sehr heterogen, durchzogen von sozioökonomischer Spaltung und der damit einhergehenden Vielfalt an Subsistenzstrategien. Die demographisch und politisch relevanteste Kategorie zur Verdeutlichung des vorliegenden Arguments, ist die der Wanderarbeiter. Mit fast dreihundert Millionen Menschen die außerhalb des Ortes ihrer offiziellen Haushaltsregistrierung (Hukou) leben, handelt es sich hier um eine gigantische Arbeitskraft und um das Rückgrat der industriellen Transformation Chinas. Sobald ein Wanderarbeiter seinen Ort der Hukou-Registrierung verlässt, verzichtet er auf jedes Recht auf staatlich subventionierte Reproduktion, wodurch er innerhalb seines eigenen Landes zu einem Bürger zweiter Klasse wird. Es liegt vielleicht auf der Hand, dass der einzige Grund, aus dem Hunderte von Millionen Menschen diese Wahl treffen würden, darin besteht, dass sie in den verarmten ländlichen Gebieten aus denen sie stammen, nicht überleben können. Sie werden von den Zwängen des Marktes dazu gezwungen, in den städtischen Zentren Arbeit zu suchen.

Die kapitalistischen Arbeitsbeziehungen waren politisch umstritten, als sie in China in den späten 1970er Jahren zum ersten Mal auftraten, da viele in der KPCh immer noch das maoistische System der lebenslangen Beschäftigung der „Eisernen Reisschüssel“ unterstützten. Aber in den 1990er Jahren war diese Debatte beendet worden, was am deutlichsten durch das Arbeitsgesetz von 1994 signalisiert wurde, das einen gesetzlichen Rahmen für Lohnarbeit schuf. Anstatt einen hochgradig regulierten Arbeitsmarkt in sozialdemokratischer Form einzuführen (wie es der Wunsch vieler Reformer war), wurde die Arbeit zwar zur Ware gemacht, ist aber nach wie vor stark informell. Sogar nach der Umsetzung des Arbeitsvertragsgesetzes von 2008, das sich speziell auf die Erhöhung der Verbreitung legaler Arbeitsverträge konzentrierte, ging die Zahl der Wanderarbeiter mit Arbeitsverträgen im Laufe der frühen 2010er Jahre zurück, so dass ab 2016 nur noch 35,1 Prozent davon abgesichert waren.

Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Vertrag genießen keinen Rechtsschutz, was es äußerst schwierig macht gegen Arbeitsrechtsverletzungen vorzugehen. Darüber hinaus ist die Sozialversicherung – einschließlich Krankenversicherung, Renten, Arbeitsunfallversicherung, Arbeitslosenversicherung und „Geburtenversicherung“ – vom Arbeitgeber abhängig. Die Verdrängung in die informelle Arbeitswelt führt zu anderen Formen der Ausgrenzung und Marktabhängigkeit für Menschen, die außerhalb ihres Meldegebiets leben. Wenn zum Beispiel ein Nicht-Einheimischer sein Kind in der Stadt an einer öffentlichen Schule anmelden will, ist die erste Voraussetzung die Vorlage eines lokalen Arbeitsvertrags – allein diese Bestimmung schließt eine große Mehrheit der Migranten von öffentlichen Schulen aus. Obwohl die Mechanismen zur Verteilung nominell öffentlicher Güter wie Bildung, von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich sind, ist die allgemeine Logik, diejenigen zu begünstigen, die der Staat als nützlich für die Aufwertung der lokalen Wirtschaft erachtet. Viele Großstädte haben „punktbasierte“ Pläne, in denen Bewerber Punkte auf der Grundlage einer Reihe von arbeitsmarktorientierten Messgrößen (z.B. höchste Bildungsstufe, Qualifikationszertifikate, Auszeichnungen für „vorbildliche Arbeitnehmer“) sammeln müssen, um Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu erhalten. Alle anderen werden den Launen des Marktes überlassen.

Die Situation für städtische Proletarier die am gleichen Ort wie ihre Hukou-Registrierung arbeiten, ist etwas anders und vom materiellen Standpunkt aus sicherlich besser. Sie haben Zugang zu öffentlicher Schulbildung, möglicherweise zu einigen Wohngeldern, und haben viel eher einen rechtlich bindenden Arbeitsvertrag. Die Sozialleistungen in China sind nicht großzügig und der Anteil der Sozialausgaben am BIP liegt weit unter dem OECD-Durchschnitt, aber Stadtbewohner haben bessere Chancen Zugang zu ihnen zu erhalten. Tiefe Klassen- und regionale Ungleichheiten, sowie fiskalische Probleme plagen das System. Es steht daher außer Frage, dass selbst diese relativ privilegierten Gruppen sich für das Kapital nützlich machen müssen, um für sich eine angemessene Gesundheitsversorgung, menschenwürdige Wohnungen oder Sicherheit im Ruhestand gewährleisten zu können. Das Dibao-Lebensunterhaltsprogramm3 reicht nicht aus und ist auch nicht dazu gedacht, die Reproduktion auf einem sozial akzeptablen Niveau zu unterstützen.

Politische Macht

Chinas Wirtschaft ist nicht nur kapitalistisch, sondern der Staat regiert jetzt im allgemeinen Interesse des Kapitals. Wie jedes andere kapitalistische Land hat der chinesische Staat seine eigene relative Autonomie und man kann sich darüber streiten, welcher Staat mehr Autonomie hat. Aber es ist offensichtlich genug, dass der Staat seinen Wagen an den Stern des kapitalistischen Wertes gehängt hat, was einen tiefgreifenden Wandel in der Regierungsführung bewirkt hat.

Diese kapitalzentrierte Logik ist in der Betriebspolitik reichlich sichtbar. China hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Explosion von Arbeiteraufständen erlebt und das Land ist weltweit führend bei wilden Streiks. Wie reagiert der Staat, wenn Arbeiter die altehrwürdige Tradition anwenden, dem Kapital ihre Arbeit vorzuenthalten? Obwohl Streiks zwangsläufig alle ihren eigenen, spezifischen Verlauf haben, interveniert die Polizei fast ausschließlich im Namen des Bosses. Ein Dienst, den sie sowohl privaten inländischen als auch ausländischen und staatlichen Unternehmen erweist. Es gibt unzählige Fälle, in denen die Polizei oder staatlich geförderte Schlägertrupps Nötigung angewendet haben, um einen Streik zu brechen. Aber ein besonders prominentes Beispiel war die gewaltsame polizeiliche Unterdrückung des Streiks von 40.000 Arbeitern in der in taiwanesischem Besitz befindlichen Yue Yuen-Schuhfabrik – die historische Ironie der im Namen der taiwanesischen Kapitalisten eingreifenden Bereitschaftspolizei ist den Arbeitern nicht entgangen. Wenn der Streik auf elegante Weise die Frage stellt: „Auf welcher Seite steht ihr?“ dann hat der chinesische Staat seine Wahl deutlich genug gemacht.

Staatliche Gewalt wird auch bei der Kontrolle von informellen Arbeitern im städtischen öffentlichen Raum eingesetzt. Die verhasste „Chengguan4“ – eine 1997 zur Durchsetzung nicht-strafrechtlicher Vorschriften gebildete para-polizeiliche Einheit – hat bei unzähligen Gelegenheiten schockierende Zwangsmethoden angewandt, um Straßenhändler und andere informelle Arbeiterinnen und Arbeiter von der Straße zu vertreiben. Regelmäßige Polizeibrutalität hat eine tiefe und weit verbreitete Feindseligkeit unter den informellen Arbeitern des Landes hervorgerufen und anti-Chengguan-Unruhen sind weit verbreitet. Das vielleicht spektakulärste und gewalttätigste Beispiel ist das der Wanderarbeiter in Zengcheng, Guangdong, die 2011 massenhaft auf die Straße gingen, als sich das Gerücht verbreitete, dass eine schwangere Frau eine Fehlgeburt hatte, nachdem sie während einer Chengguan-Operation angegriffen worden war. Nach tagelangen, umfassenden Unruhen wurde der Aufstand von der Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen.

Wenn wir das Kapital nicht nur als eine wirtschaftliche Beziehung betrachten, die auf Ausbeutung beruht, sondern als eine politische Beziehung, in der die Arbeit untergeordnet ist, gibt es andere Möglichkeiten, in denen staatliches Handeln mit der Logik des Kapitals in Einklang steht. Gerade als die VR China ihren kapitalistischen Übergang einleitete, beschloss Deng Xiaoping 1982, das Streikrecht aus der Verfassung zu streichen. Gepaart mit dieser Einschränkung der Arbeitsrechte war ein ständiges Verbot der Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die einzige legale Gewerkschaft ist der Gesamtchinesische Gewerkschaftsbund, eine Organisation, die explizit der KPCh und implizit dem Kapital am Arbeitsplatz untergeordnet ist. Es ist gängige Praxis, dass Personalchefs in einem Unternehmen zum Gewerkschaftsvorsitzenden auf Unternehmensebene ernannt werden, ohne dass es auch nur ein Feigenblatt der demokratischen Beteiligung der Beschäftigten gibt. Es versteht sich von selbst, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter diese Gewerkschaften nicht als eine sinnvolle Vertretung ihrer Interessen ansehen. Die Bemühungen zum Aufbau autonomer Organisationen sind mit harter Repression beantwortet worden.

Die politische Unterwerfung des Proletariats erstreckt sich ebenfalls auf die formalen staatlichen Strukturen. Wie alle Bürger haben auch die Arbeiter nicht das Recht, sich in der Zivilgesellschaft selbst zu organisieren, politische Parteien zu gründen oder irgendeine Art von politischer Delegation auszuüben. Sie sind so völlig vom guten Willen der KPCh abhängig, sie zu vertreten. Die Partei erhebt nicht mehr den Anspruch, die Interessen der Arbeiter und Bauern gegenüber ihren Klassenfeinden zu vertreten – seit der Aufnahme von Kapitalisten in die Partei und der Förderung des Konzepts der „Dreifach Vertretung“ unter Jiang Zemin haben sie sich zum Ziel gesetzt, die „grundlegenden Interessen der überwältigenden Mehrheit des chinesischen Volkes“ zu vertreten. In Kombination mit dem effektiven Verbot des Staates, Klassenantagonismus anzuerkennen, ist klar, dass die soziale Basis der Einparteienherrschaft eine tiefgreifende Konterrevolution durchlaufen hat.

Schon eine oberflächliche Bewertung der sozialen Zusammensetzung der Zentralregierung zeigt, dass das Kapital nicht nur einen guten Zugang zur Staatsmacht hat, sondern grundsätzlich untrennbar mit der Staatsmacht verbunden ist. Die Zahl der Vertreter der „Frontarbeiter“ im Nationalen Volkskongress (NVK) sank während der Sitzungsperiode 2003-8 auf 2,89 Prozent, ein dramatischer Rückgang gegenüber den 1970er Jahren. Eine erstaunliche Konzentration von Plutokraten im Nationalen Volkskongress und in der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (PKKCV) ist der beste Beweis für die Formalisierung der politischen Macht des Kapitals: 2018 verfügten die reichsten 153 Mitglieder dieser beiden zentralen Regierungsorgane5 zusammen über ein geschätztes Vermögen von 650 Milliarden US-Dollar. Die Legislative hat versucht, Menschen einzubeziehen, die ihre Milliarden im privaten Sektor verdient haben, wie Pony Ma, Chef des Internet-Giganten Tencent. Aber die Umwandlung von wirtschaftlicher zu politischer Macht funktioniert auch in die andere Richtung: Die Familie von Wen Jiabao (dem ehemaligen Premierminister) nutzte ihre politischen Verbindungen, um persönliches Vermögen in Höhe von schätzungsweise 2,7 Milliarden US-Dollar aufzubauen. In der VR China des 21. Jahrhunderts verleiht Kapital politische Macht, so wie politische Macht Kapital liefert.

Die Behauptung der Regierungspartei, China sei sozialistisch6, wird von der Realität einfach nicht bestätigt. Es gibt jedoch einige wenige Merkmale der Wirtschaft, die sich von einem modalen kapitalistischen Land im Jahr 2020 stark unterscheiden und daher etwas mehr Aufmerksamkeit verdienen.

Staatliches Eingreifen in die Wirtschaft

Es besteht kein Zweifel, dass die staatlichen Eingriffe Chinas in die Wirtschaft umfangreicher sind als in den meisten kapitalistischen Ländern. Aber wenn wir uns mit dem Kapitalismus im Allgemeinen und nicht mit seiner relativ neuen neoliberalen Form befassen, erscheint China nicht ganz so außergewöhnlich. Chinesische Staatsunternehmen tragen 23-28 Prozent zum BIP bei – ein für die heutige Welt unbestreitbar hoher Anteil. Aber Dirigismus ist für den Kapitalismus nichts Neues. Er tritt nicht nur in seinem Heimatland Frankreich auf, sondern auch in einer Vielzahl faschistischer Länder, in Indien nach der Unabhängigkeit und sogar in dem von der Kuomintang (KMT) kontrollierten Taiwan, wo Staatsunternehmen noch in den 1980er Jahren fast ein Viertel des BIP des Landes erwirtschafteten. Staatliche Interventionen, die auf die Steigerung von Effizienz, Rentabilität und Vorhersagbarkeit ausgerichtet sind, stehen nicht im Gegensatz zum Kapitalismus, sondern sind eine notwendige Komponente.

Um noch einmal auf die Perspektive der Arbeiter zurückzukommen, werden wir sehen, dass der Unterschied zwischen staatlichem und privatem Kapital minimal ist. Dutzende Millionen Beschäftigte des staatlichen Sektors wurden in den 1990er und frühen 2000er Jahren im Rahmen der staatlichen Kampagne zur „Zerschlagung der Eisernen Reisschüssel“ entlassen. In einen Arbeitsmarkt geworfen, auf den sie völlig unvorbereitet waren, löste diese Privatisierungskampagne Subsistenzkrisen und massiven Widerstand unter den ehemaligen Herren der Nation aus.

Nach dieser Welle der Kürzungen, des Diebstahls von Renten und anderen öffentlichen Gütern waren die verbleibenden staatlichen Unternehmen „harten Budgets“ und den Kräften des Marktes unterworfen, auch in ihrer Arbeitsorganisation. Wie der Soziologe Joel Andreas ausführlich dokumentiert hat, wurden die zugegebenermaßen unvollkommenen Experimente mit der Arbeitsplatzdemokratie in der Mao-Ära, durch die Kommerzialisierung ausgehöhlt, und die Arbeiter staatlicher Unternehmen sind jetzt dem Management genauso untergeordnet wie in einem entsprechenden Privatunternehmen. Diese Firmen sind in keiner Weise „öffentliches“ Eigentum – sie gehören einem nicht rechenschaftspflichtigen Staat und werden von ihm kontrolliert.

In der Bodenfrage ist es ähnlich. Tatsächlich befindet sich das gesamte städtische Land im Besitz des Staates, während sich das gesamte ländliche Boden in kollektivem Besitz der lokalen Bevölkerung befindet. Doch wie eine Vielzahl von Untersuchungen gezeigt hat, hat die Trennung von Nutzungs- und Eigentumsrechten zu einer unverkennbar kapitalistischen Nutzung der Bodenfläche geführt. In den Städten hat dies zu einem historisch beispiellosen Boom im Bau von vermarktbarem Wohnraum geführt, der sich, wie bereits erwähnt, vollständig an Marktbedürfnissen orientiert. Die Stadtregierungen sind in hohem Maße steuerlich von den Gewinnen aus Grundstücksauktionen abhängig, was zu einer engen Abstimmung ihrer Interessen mit denen der Bauträger führt.

Ländliche Hukou-Besitzer haben ein Anrecht auf ein Stück Land, obwohl es – wie die massive Land-Stadt-Wanderung vermuten lässt – selten genug oder von ausreichender Qualität ist, um die soziale Reproduktion aufrechtzuerhalten. Die Ausdehnung der Stadt nach außen hat zu einer massiven Enteignung der Bauern geführt. Wie die Arbeiter in staatlichen Unternehmen sind die Bauern kaum in der Lage, Aufsicht oder Kontrolle über ihr (nominell) kollektives Land auszuüben. Die Dorfvorsteher sprechen im Namen des Kollektivs. Die Folge sind endlose Zyklen der Landenteignung, in denen die Bauern in der Regel einen Bruchteil des Marktwertes ihres Landes erhalten, während die Kader und Bauträger kassieren. Und schließlich hat die Landwirtschaft in China für die Menschen, die ländliche Bodenflächen erhalten, einen tiefgreifenden kapitalistischen Wandel durchgemacht, wobei die Landnutzungsrechte durch die Agrarindustrie gesichert werden, während verschiedene Inputs ebenfalls zu Waren gemacht werden. Dass Land formell Kollektivbesitz ist, hat diesen Prozess kaum behindert.

Die Logik der kapitalistischen Wertproduktion hat sich in Wirtschaft und Staat eingeschmuggelt und Chinas Sozialstruktur dramatisch umgestaltet. Aber die Klassenbeziehungen des heutigen China zu verstehen, ist nur ein erster Schritt. Eine umfassendere Bewertung der komplexen Ko-Konstitution von Klasse und anderen Formen der sozialen Hierarchie auf der Grundlage von Ethnie, Geschlecht, Geographie und Staatsbürgerschaft ist notwendig, um eine politische Antwort zu formulieren, die dem gegenwärtigen Moment einer tiefgreifenden Krise angemessen ist. Eine ganze Reihe drängender praktischer Fragen kann nicht allein auf der Grundlage einer Klassenanalyse gelöst werden, ganz zu schweigen von den vorherrschenden liberalen oder ethno-nationalistischen Rahmenbedingungen: Wie sollten wir die Bemühungen des chinesischen Staates interpretieren, den sozialen Widerstand in Hongkong politisch zu drosseln, seine Versprechen, Taiwan zu annektieren, und die Kolonialprojekte der Han-Siedler in Xinjiang und Tibet? Ist das enorme Wachstum der weltweiten Investitionen im Rahmen der „Belt-and-Road-Initiative“ ein Hinweis auf ein aufstrebendes kapitalistisches Imperium? Was ist eine richtige radikale, anti-nationalistische und antiimperialistische Antwort auf den sich verschärfenden Konflikt zwischen den USA und China?

Dies sind einige der dringendsten Fragen, mit denen die Linke heute konfrontiert ist und es gibt keine einfachen Antworten. Aber soviel steht fest: Die falschen Versprechen des chinesischen Staates, die Welt im Alleingang in eine sozialistische Zukunft zu führen, müssen von Antikapitalisten voll und ganz abgelehnt werden. Marx‘ Worte aus Die deutsche Ideologie klingen auch heute noch wahr: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“. So tröstlich es auch wäre, darauf zu vertrauen, dass eine aufstrebende Supermacht die Welt – die wir uns wünschen – aufbauen wird, es ist eine Illusion. Wir müssen sie selbst aufbauen.


1Das alleine wäre der Gebrauchswert.

2Kommodifizierung beschreibt den Prozess der Inwertsetzung, bzw. das Zur-Ware-Werden einer Sache.

3Eine Art Grundeinkommen, das eine Mindestabsicherung von Menschen gewährleisten soll.

4„eine Hilfspolizei, die für den Vollzug des städtischen Verwaltungs- und […]Ordnungsrechts zuständig ist“ so Human Rights Watch.

5Beide zusammen haben fast 5200 Mitglieder. In der PKKCV sind KPCh-Mitglieder eine Minderheit. In der KPCh sind ebenfalls (Super-)Reiche Mitglieder, ob sie aber tatsächlich politische Macht haben, ist höchst umstritten.

6Tatsächlich sagt sie das nicht. Es wird offen kommuniziert, dass es sich bei China um eine “sozialistische Marktwirtschaft” handelt. D.h. Marktwirtschaft mit staatlicher Planung und Kontrolle in wesentlichen Aspekten und einflussreichen, wenn auch immer weniger werdenden, Staatsbetrieben, die durch bestimmte Gesetzgebungen enorme Macht haben. Laut Vertretern dieses Weges, ist die Gesetzgebung so gestaltet, dass der Staat über Umwege, auch im Privatsektor, die wesentliche Kontrolle behält. Somit sollen sich staatliche Planung mit der Flexibilität der Marktwirtschaft. Eine umfassende Darstellung der Position für den chinesischen Weg liefert das Buch Theorie, System & Praxis des Sozialismus in China, Marcel Kunzmann, Rotes Berlin.

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