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Die russische „Bedrohung für Freiheit und Demokratie“

Von Alexander Gallus

Alexander Gallus wirft einen genaueren Blick auf die Entwicklungen, die zu den dramatischen Ereignissen letzter Woche geführt haben und bietet einige Erklärungen für ihre Entstehung an. Der Text wurde im Original beim US-amerikanischen Cosmonaut Magazine auf Englisch veröffentlicht und von uns mit freundlicher Genehmigung des Autors übersetzt. Weitere Briefe und Reaktionen auf diesen Text, findet ihr auf der Seite der GenossInnen.


Die jüngste russische Militäroperation gegen die Ukraine hat die Welt kaum überrascht. In den vergangenen Monaten und Wochen wurden wir Zeugen historischer Ereignisse, Momente, die das wahre Wesen der gewaltigen Herausforderungen und der Realität, mit der wir konfrontiert sind, nicht nur im Bereich der internationalen Politik, sondern auch hier bei uns, radikal offenlegen. Seit Monaten wird uns gesagt, es gebe „eine wachsende und unbestreitbare Flut von Beweisen, dass Putin bereit ist, die größte Militäroperation zu starten, die die Welt seit 1945 gesehen hat“. Mit einer in der Tat evidenzfreien Einstimmigkeit und Gleichschaltung der Berichterstattung zur Untermauerung solch haarsträubender Behauptungen haben die gewinnorientierten amerikanischen Mainstream-Medien die totale Degeneration des kritischen Journalismus demonstriert: seinen stetigen Absturz in Übertreibung und die bloße Stenografie für Geheimdienststrategen und den Militärstaat. In einer unglaublichen Aussetzung jeglicher Logik, des gesunden Menschenverstands und der kritischen Analyse wird uns immer wieder gesagt, dass wir einfach nicht wissen können, was „in Putins Kopf vorgeht“, und das trotz der wiederholten lautstarken Bekundungen russischer Sicherheitsbedenken und Forderungen, die in den Verhandlungen während dieser Krise geäußert wurden, sowie den ausführlichen Äußerungen des Kremls1 zu seinen Überlegungen. Letztlich sind es die historischen imperialen und ökonomischen Ambitionen der US-Regierung und der NATO, die militärische Expansion, der nationale Chauvinismus und die zwangsläufige „Andersartigmachung“ ganzer Völker, die zur Rechtfertigung der Fortexistenz der NATO den Kern der letzten acht Jahre offener Spannungen und des Krieges zwischen Russland und der Ukraine bilden.

Während man sich in der Vergangenheit bei anderen ausländischen Akteuren und Staaten wie dem Iran oder sogar dem IS mit der Frage beschäftigte, ob sie „rationale Akteure“ seien oder nicht, wurde diese Frage im letzten Jahrzehnt systematisch vermieden, wenn es darum ging, die Motive der Russischen Föderation zu verstehen. Es wird einfach behauptet, dass man Putin, wenn er den Mund aufmacht, nicht trauen könne, denn, wie wir alle wissen, können Kriminelle niemals legitime Anliegen haben, sondern gehören bestraft. Wie kann man „Mad Vlad“ verstehen? Keiner weiß es! In der Tat bedeutet, im gegenwärtigen politischen Klima diese Frage zu stellen, bereits, ein „Russland-Apologet“ oder Schlimmeres zu sein.

Es wird uns vorgegaukelt, dass der „russische Bär“ einfach nur auf fremde Eroberung aus sei, auf die Wiederauferstehung des Zarenreichs oder sogar der Sowjetunion. Solche Behauptungen werden, trotz der offenkundig konservativ-kapitalistischen Einstellung der regierenden Partei „Einiges Russland“, in einem Vakuum aufgestellt, das die sich verschlechternden historischen Beziehungen zwischen der NATO und dem sich in einer prekären Position befindlichen kapitalistischen Staat Russland im Verhältnis zu seinen westlichen „Partnern“ in den letzten Jahrzehnten leugnet. Putins stolz verkündeter Niedergang des „historischen Russlands“ ist eine objektive Realität angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion, der Massenprivatisierung und Korruption, der drastischen, wiederholten Wirtschaftskrisen infolge geopolitischer Herausforderungen, der NATO-Erweiterung in Osteuropa, der Stationierung offensiver militärischer Systeme und der Politik der „nuklearen Teilhabe“, der routinemäßigen Testflüge von NATO-Atombombern an der russischen Grenze, der von den USA verhängten Sanktionen gegen Russland usw.

Der Ausstieg der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) im Jahr 2000 hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zur Entwicklung der Spannungen und der Aufrüstung beigetragen. Der Thinktank Carnegie Endowment for International Peace sagt dazu: „2018 stellte der russische Präsident Wladimir Putin freudig eine Reihe neuer nuklearer Trägersysteme vor – einen interkontinentalen Hyperschallgleiter, einen nuklear angetriebenen Marschflugkörper und einen nuklear angetriebenen Torpedo – , die er als Reaktion auf den Wegfall des ABM-Vertrags bezeichnete. Die Geschichte scheint ihm recht zu geben.“ Man beachte, dass selbst dieser seriöse Bericht das Bedürfnis aufweist, die scheinbar wahnsinnige, „freudige“ Haltung des russischen Präsidenten zu beschreiben. Trotzdem und ungeachtet der Behauptungen, dass es in Russland keine legitimen Beschwerden gebe, sieht die Realität einfach anders aus. Schon bei den Verhandlungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion während des Zusammenbruchs der DDR wurde der sowjetischen und der russischen Regierung wiederholt „kategorisch zugesichert“, dass die NATO „keinen Zentimeter nach Osten“ vorrücken werde.

Offensichtlich geschah dies nicht. Im Gegensatz zu diesen „eisernen“ Zusicherungen, die, wie der Spiegel berichtet, jedem russischen Staatschef seit Gorbatschow gegeben wurden, hat die NATO seither 17 weitere Mitglieder aufgenommen, fast jedes einzelne ehemalige Mitglied des Warschauer Pakts und jede ehemalige Sowjetrepublik in Europa, mit Ausnahme von Belarus, der Ukraine und Russland selbst. Ironischerweise hat auch die Russische Föderation im Jahr 2000 bei Bill Clinton um den Beitritt zur NATO gebeten, wurde aber abgewiesen. Welchen Nutzen hätte ein europäisches Militärbündnis mit nuklearer Abschreckung, abgesehen davon, dass es gelegentlich Kleindiktatoren aus der Dritten Welt stürzen könnte, wenn es nicht einen „Feind“ gäbe, der die Bündnispartner disziplinieren und sein jährliches Militärbudget von mehr als 1,2 Billionen Dollar rechtfertigen würde? Dies ist in der Tat ein Dilemma für das von den USA dominierte nordatlantische Bündnis, insbesondere nach seinen historischen politischen und militärischen Niederlagen im Irak und in Afghanistan.

Die formale Stärke des globalen Hegemons USA hat sich jedoch durch erhöhte US-Militärausgaben und erstaunlich erfolgreiche Propagandakampagnen, mit denen die amerikanische Öffentlichkeit und die Welt davon überzeugt werden sollten, dass Donald Trump durch russische Aggressionen und „Einmischungen“ gewählt wurde – trotz aller kritischen politischen Analysen und gegenteiligen Beweise – stetig fortgesetzt. Noam Chomsky und Edward Herman fassen die amerikanische Haltung in dieser Hinsicht in ihrem Buch Manufacturing Consent treffend zusammen: „Wenn es keine stichhaltigen Beweise gibt, dann deshalb, weil die Sowjets absolute Profis sind, die ihre Spuren verwischen und eine ‚plausible Bestreitbarkeit‘ aufrechterhalten“ (Herman/Chomsky, S. 147). Ohne jeglichem Bezug zur Realität haben diese nützlichen Mythen, die von den bürgerlichen Medien mit erstaunlicher Effektivität verbreitet werden, dazu beigetragen, Russland „andersartig“ zu machen und wurden zur Legitimation für den Beginn der westlichen Sanktionen und der eskalierenden Aggression gegen das russische Volk.

Sanktionen, Übergriffe und die ständige militärische Einkreisung Russlands sind eine Bedrohung für den Weltfrieden und werden in ganz Russland als ernste Gefahr empfunden. Im Übrigen stellt Bidens eigener CIA-Direktor William J. Burns in seinen Memoiren fest, dass die Besorgnis über und der Widerstand gegen die NATO-Erweiterung „quer durch das gesamte politische Spektrum“ gehe, und deutet an, dass eine weitere Expansion keine gute Strategie für einen Regimewechsel in Russland sei. Das nationale Gedächtnis und die historischen Traumata der ausländischen Invasionen und der Neokolonisierung Russlands in den 1990er Jahren sind in Russland tief verwurzelt. Noch wichtiger ist jedoch, was Burns in seiner Eigenschaft als Botschafter der Vereinigten Staaten in Russland 2008 in ein Telegramm schrieb, das von Wikileaks veröffentlicht wurde:

Die Bemühungen der Ukraine und Georgiens um einen NATO-Beitritt treffen nicht nur einen wunden Punkt in Russland, sondern rufen auch ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Folgen für die Stabilität in der Region hervor. Russland nimmt nicht nur eine Einkreisung und Bestrebungen zur Untergrabung des russischen Einflusses in der Region wahr, sondern befürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierte Folgen, die die russischen Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigen könnten. Experten zufolge ist Russland besonders besorgt darüber, dass die starken Meinungsverschiedenheiten in der Ukraine über die NATO-Mitgliedschaft, bei denen ein Großteil der ethnisch-russischen Gemeinschaft gegen die Mitgliedschaft ist, zu einer größeren Spaltung führen könnten, die Gewalt oder schlimmstenfalls einen Bürgerkrieg zur Folge hätte. In diesem Fall müsste Russland entscheiden, ob es interveniert – eine Entscheidung, die es nicht treffen möchte“.

Äußerungen wie die der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, einer Deutschen, vom 24. Februar entlarven jedoch die historisch ignorante und chauvinistische Haltung unserer Machthaber gegenüber dem russischen Volk: „Präsident Putin versucht, die Uhr zurückzudrehen in die Zeiten des russischen Zarenreichs. Doch damit setzt er die Zukunft des russischen Volkes aufs Spiel“. Diese äußerst reaktionäre und arrogante Haltung der Vereinigten Staaten und ihrer Juniorpartner hat nur dazu geführt, dass die „stärksten“ Verteidiger Russlands und folglich seine Reaktionäre gestärkt wurden.

Der auf der Krim geborene ehemalige ukrainische Sowjetdissident Konstantin Pleshakov erklärt in seinem Buch The Crimean Nexus: Putin’s War and the Clash of Civilizations, wie das amerikanische diplomatische Korps und die Berater, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Moskau kamen, den Russen paternalistisch beibringen wollten, wie man „Demokratie“ praktiziert, und immer wieder entsetzlich chauvinistische Haltungen an den Tag legten – nicht nur gegenüber ihren Partnern in der russischen Oligarchie, sondern auch gegenüber dem russischen Volk. Bei seiner Ankunft in Moskau 2012 stellte sich der Botschafter von Präsident Obama in Moskau, Michael McFaul, fröhlich als Spezialist für „Demokratie und Revolution“ vor. Pleshakov erklärt: „Der Kreml hat nicht gezögert, seinen Unmut deutlich zu machen. Belästigt von Fernsehteams der Regierung, die den Zeitplan des Botschafters besser zu kennen schienen als seine Assistenten und jeden seiner Schritte verfolgten, verlor McFaul schließlich die Fassung, nannte Russland öffentlich ein ‚barbarisches, unzivilisiertes Land‘ und reichte im Februar 2014 wütend seinen Rücktritt ein“ (Pleshakov, S. 34).

Wie schon oft zitiert, folgte auf Putins Aussage, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die in Russland weit verbreitete Meinung, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die daraus resultierende Massenprivatisierung seien eine „echte Tragödie“ für das russische Volk. Nach seiner recht hurrapatriotischen Auffassung war der Zusammenbruch der Sowjetunion vor allem deshalb eine Tragödie, weil sich Millionen von Russen über Nacht außerhalb der Grenzen Russlands wiederfanden. In Anbetracht der komplexen Geschichte und der ethnischen Zerrissenheit der Region, insbesondere der Ukraine, ist es jedoch eine Tatsache, dass dies zutraf. Ethnische Spannungen, die während der gesamten Zeit des Bestehens der Sowjetunion eingefroren waren, wurden erst nach deren Zusammenbruch deutlich. Hochmütige westliche Beteuerungen, die „nationale Souveränität“ in der Ukraine zu respektieren, lassen die komplexe Geschichte und die ethnischen Spannungen, die durch die ukrainische nationalistische Politik der letzten Jahre verschärft wurden, völlig außer Acht.

Seit acht Jahren wird das Minsker Abkommen von Kiew systematisch als Fehlschlag betrachtet, da es sich dafür entschieden hat, einen ständigen Krieg mit den Separatisten zu führen und Gespräche mit diesen „Terroristen“ zu verweigern. Anstatt der russischen Forderung nachzugeben, groß angelegte intensive Verhandlungen über die europäische Sicherheit aufzunehmen, die länger als einen Tag in bestehenden Foren wie dem Normandie-Forum usw. dauern, haben die Mitglieder der westlichen Allianz die unbegründeten ukrainischen nationalistischen Bestrebungen unterstützt, die russischen Truppen aus „ihren“ Gebieten auf der Krim und im Südosten der „modernen Ukraine“ zu vertreiben, die von russischer ethnischer oder sprachlicher Mehrheit bewohnt werden. Trotz wiederholter Ankündigungen und nachdrücklicher Forderungen des Kremls, echte Verhandlungen über seine Sicherheitsbedenken aufzunehmen – in Bezug auf die NATO-Erweiterung und offensive Militäranlagen an seinen Grenzen, neue Anlagen, die Moskau in wenigen Minuten von der Ukraine aus erreichen könnten, wenn sie der NATO beiträte, so dass keine Zeit für einen Gegenangriff bliebe –, wurden diese Forderungen über Monate und Jahre hinweg abgewiegelt. Obwohl klar ist, dass die Ukraine aufgrund ihrer andauernden territorialen Streitigkeiten und aus anderen Gründen nicht für einen NATO-Beitritt in Frage kommt, haben sich die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Außenpolitik außerstande gesehen, Russland verbindliche Zusicherungen zu geben, dass die Ukraine in der Tat nicht beitrittsfähig ist. Stattdessen wurde die Ukraine zu einem „Partner mit verbesserten Möglichkeiten“ der NATO erklärt und mit „todbringenden Hilfen“ überhäuft.

Auch hier ist es das Bedürfnis des westlichen Bündnisses nach einem Feind, das dem Anschein nach diesem völlig irrationalen, unverantwortlichen und destruktiven Ansatz zugrunde liegt. Sogar die Washington Post kommt auf die Idee, dass es vielleicht besser wäre, einen ebenbürtigen nuklear bewaffneten Staat wie Russland mit mehr diplomatischem Takt zu behandeln. Die Wahrheit ist, dass es seit langem ein erklärtes Ziel von US-Außenpolitik-Experten ist, die Ukraine von Russland zu trennen, um dessen Verteidigung militärisch auszuschalten und die Stellung des russischen Staats in der imperialistischen Staatenhierarchie und auf dem Weltmarkt weiter zu schwächen. Beim American Foreign Service heißt es dazu: „In seinem 1997 erschienenen Buch The Grand Chessboard bezeichnete der ehemalige Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski die Ukraine als ‚geopolitischen Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiges Land [bedeute], dass Russland aufhört, ein eurasisches Imperium zu sein‘. Auch wenn dies von offizieller Seite nicht oft öffentlich geäußert wird, um Russland nicht zu verärgern, ist diese strategische Erkenntnis bis heute die Grundlage für einen Großteil der US-Politik“.

Als die jahrelangen Investitionen von fünf Milliarden Dollar in die ukrainische „Demokratie“ Früchte trugen und peinlicherweise aufgedeckt wurde, dass Victoria Nuland die Wahlen in der Ukraine 2014 beeinflusst hatte, kamen die Vereinigten Staaten diesem strategischen Ziel gewiss näher. Wenn diese Strategie die Unterstützung von Nationalisten aller Couleur oder die Bewaffnung offener Neonazis erforderte, dann „ist das eine gute Sache“. Victoria Nuland, die als Assistentin des Vize-Außenministers Strobe Talbott die demokratische Erneuerung und wirtschaftliche Umstrukturierung des postsowjetischen Russlands beaufsichtigte, kommentierte damals gutmütig: „Das passiert, wenn man versucht, die Russen dazu zu bringen, ihren Spinat zu essen. Je mehr man ihnen sagt, dass er gut für sie ist, desto mehr würgen sie“. Wie Talbott in seinen Memoiren festhält, wurde dieser Satz, „die Russen dazu zu bringen, ihren Spinat zu essen“, zum Schlagwort für ihre Mission und ihre Aktivitäten in Russland (Pleshakov, S. 35). Es ist also keine Überraschung, dass das russische Volk auf diese protestantische Evangelisierung der „Demokratie“ und die damit verbundene wirtschaftliche Zerstörung mit einem erdrutschartigen Sieg des starken Manns Wladimir Putin reagierte.

Unserer allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung Russlands liegt eine jahrelange, unerbittliche Medienkampagne zugrunde, die Russland als den aggressiven „Anderen“ darstellen will, der selbstverständlich militärisch bekämpft und eingekreist werden muss. Dieses Narrativ stellt dabei die Realität auf den Kopf: Darin ist es nicht das „streng defensive“ Bündnis der NATO, das jemals der Aggression bezichtigt werden kann; alles, was die Vereinigten Staaten und ihr Militärbündnis tun, ist schlicht und einfach defensiver Natur. Doch diese Gnade wird Russland selbstredend nicht zuteil, denn es ist seinem Wesen nach nicht defensiv, sondern wahlweise das aufstrebende Zarenreich oder das Sowjetimperium. Auch wenn es sicherlich reaktionäre Traditionen und patriotische Anspielungen auf „Großrussland“ gibt, die vom Kreml genutzt werden, so ändert dies nichts an der grundlegenden Realität der Dynamik der jüngsten historischen Entwicklungen und der Versuche Russlands, das Minsker Abkommen umzusetzen. Ein Blick auf die Erfolgsbilanz der NATO, sei es im Irak, in Somalia, Libyen, Jemen usw. oder bei der Anerkennung des Kosovo als unabhängigem Staat, verdeutlicht, dass die Vereinigten Staaten und die NATO an vorderster Front gegen alle bisherigen Normen des Völkerrechts verstoßen und zerstörerische Präzedenzfälle geschaffen haben, die nun im Krieg Russlands gegen die Ukraine für die Welt sichtbar werden.

Konstantin Pleshakov fasst treffend zusammen, wie die Beziehungen zwischen den USA und Russland beschaffen sind:

Was bei Putins Außenpolitik oft übersehen wird, ist, dass sie weitgehend reaktiv ist. Moskau hält das amerikanische Engagement in der Ukraine für inakzeptabel.(…) Die Leichtigkeit, mit der die Vereinigten Staaten nun einen demokratisch gewählten Präsidenten, Janukowitsch, fallen ließen und den Aufständischen in Kiew uneingeschränkte Anerkennung zollten, erzürnte den Kreml. Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren hatte Amerika einen Regimewechsel in Russlands „Schwesterland“ unterstützt, wenn nicht sogar inszeniert. War ein Putsch in Moskau der nächste? Die NATO-Erweiterung und das politische Engineering der USA im nahen Ausland waren zwei Faktoren, die die starke russische Reaktion auf den Regimewechsel in Kiew [2014] auslösten“ (Pleshakov, S. 58).

Außerdem bekräftigt er, dass das Vorgehen der NATO im gesamten politischen Spektrum Russlands als Bedrohung wahrgenommen werde, sehr zum Leidwesen der amerikanischen Diplomaten in den letzten Jahren. Eine weitere Runde von Sanktionen durch die US-Regierung und ihre Verbündeten wird nur zu einer weiteren Konfrontation zwischen der NATO und Russland führen, eine Logik, die nur in einer Katastrophe enden kann. Natürlich greifen viele Kommentatoren in diesem Moment immer noch verzweifelt nach dem bewährten westlichen Drehbuch, Sanktionen und Regimewechsel in Russland, während das Weiße Haus eine neue Sanktionsrunde und die Entsendung von US-Truppen nach Osteuropa ankündigt.

Aber wie wir im Irak, im Iran und anderswo gesehen haben, führen kollektive Bestrafungen ganzer Völker durch lähmende Sanktionen nicht von selbst zu einem imperialistischen Regimewechsel, sondern dienen nur dazu, ihre Regierungen weiter in einer defensiven Haltung zu verankern und den Krieg zu verstärken. Russland ist trotz seines unverhältnismäßig kleineren jährlichen Militärbudgets von 61 Milliarden Dollar im Vergleich zu den 1,2 Billionen Dollar der NATO kein Irak, Iran oder Libyen, sondern ein gleichwertiger, nuklear bewaffneter Staat. Erst recht nach dem Einmarsch Russlands besteht der einzige Ausweg aus dieser Krise, abgesehen von Arbeitermassenparteien und Revolutionen, darin, dass die Vereinigten Staaten die Sicherheitsbedenken Russlands endlich ernst nehmen, dass sie die kollektiven Sanktionen gegen das russische Volk nicht erhöhen und dass sie intensive europäische Sicherheitsverhandlungen aufnehmen, die den Frieden garantieren. Darüber hinaus sollten wir erkennen, dass die globale Hegemonialstrategie unserer US-Regierung und der NATO eine aggressive Strategie ist, die den Frieden und die Zusammenarbeit zwischen den Völkern systematisch bedroht und allein in diesem Jahrhundert hunderttausende Menschen getötet hat. Wir sollten uns dafür einsetzen, die überholte NATO aufzulösen. Für uns steht der Hauptfeind immer noch im eigenen Land!


Edward Herman, Noam Chomsky: Manufacturing Consent: the Political Economy of the Mass Media; Pantheon Books 1995

Constantine Pleshakov: The Crimean Nexus: Putin’s War and the Clash of Civilizations, Yale University Press 2017


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