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Diskussion

Rauschen und Signale

Nikhil Pal Singh und Joshua Clover

I

Seit Beginn der Pandemie und der damit einhergehenden Reihe außergewöhnlicher und zunehmend alltäglicher globaler Ereignisse haben viele das Ende des Neoliberalismus und die Geburtswehen von etwas Neuem, das an seine Stelle tritt, diagnostiziert. Im ersten Teil einer zweiteiligen Serie zeichnen Joshua Clover und Nikhil Pal Singh die gegenwärtige Situation nach und suchen in den Trümmern des globalen Kapitalismus nach Antworten.

Ist der Neoliberalismus am Ende? Beim Blick aus dem nordatlantischen imperialen Kern heraus schien es noch im letzten Frühjahr Grund zu geben, diese Möglichkeit zumindest zu erwägen.

Bei dem Versuch, über die Politik der Gegenwart nachzudenken (mit all den Einschränkungen, die dieser Begriff mit sich bringt), könnten die dramatischen Ereignisse, die wechselnden Gezeiten und die Offenbarungen der letzten zwei Jahre durchaus so etwas wie einen Bruch oder zumindest einen Übergang bedeuten. Zeit und Größenordnung sind immer ein Rätsel. Ist „die Pandemie“ der fragliche Zeitraum bei der Betrachtung dieses möglichen Übergangs oder zumindest das Zeitfenster dramatischer Veränderungen, wie es manchmal scheint? Wir befinden uns erst seit zwei Jahren in einem 100-Jahres-Sturm, mit all der historischen Aufgeräumtheit, die das mit sich bringt. Vieles ist seit April 2020 geschehen, als sich das Massensterben, das erst spät als durch die Luft übertragen erkannt wurde, gleichzeitig auf der ganzen Welt ausbreitete. In der darauf folgenden Reihe von Ereignissen fanden einige zufällig gleichzeitig statt, aber die meisten deckten bestehende Schwächen auf: komplexe Abhängigkeiten, die unter Druck stehen, soziale Bruchstellen, die bereits an ihrer Belastungsgrenze angelangt sind.

Wir könnten der Reihe nach mehrere anführen: eine Geopolitik der Arbeitsarbitrage und des eingeschränkten Technologietransfers, die durch ein planetarisches Netz von Lieferketten aufrechterhalten wird, das billige Arbeitskräfte und billige Ressourcen mit Wertschöpfungszonen und weit entfernter Kaufkraft verbindet und dessen Zerbrechlichkeit durch den langen Winter der Ansteckung offengelegt wurde. Oder die Deindustrialisierung der Arbeitsmärkte, die bereits durch die Divergenz zwischen wohlhabenden Fachkräften und prekären Gig-Proleten (den beiden Klassenfragmenten, denen die saisonalen Beinamen „Homeoffice“ und „systemrelevante Berufe“) gegeben wurden, die zusammenzubrechen scheinen und sich unter der Überschrift „die große Resignation“ neu formieren. Oder die staatlichen Einkommensbeihilfen und Schuldenmoratorien, die die jahrzehntelange Doxa der Austerität aufzuheben schienen. Hinzu kommen so epochale Ereignisse wie der George-Floyd-Aufstand und die Farce des Pseudo-Putsches vom 6. Januar – die wahrnehmbarsten Ereignisse der Pandemie in den USA, aber auch entsprechend chaotische und zugegebenermaßen schwache Signale für den Bruch, den die Pandemie vorgab zu sein.

Es bleibt jedoch eine Herausforderung, eindeutige Signale von Rauschen zu unterscheiden und den Gezeitenwechsel nicht mit vorübergehenden Wellen zu verwechseln. Die genannten politischen Ereignisse der letzten Jahre sind zum Beispiel plausibler in der Passage zu verorten, die die Trump-Präsidentschaft dargestellt hat, die immer wieder als eine Art Bruch dargestellt wird, dessen Spur von gebrochenen Normen und Werten angeblich das Ende eines früheren Miteinanders und einer Fortschrittsgeschichte markiert. Die besagte Präsidentschaft ist eingebettet in die düstere Restauration vielfältiger weißer Nationalismen von einst; diese Restauration selbst ist wiederum eingebettet in – wenn auch nicht allein zu erklären durch – die späte Ankunft sinkender Lebenschancen für die Mehrheit der Menschen, mit Ausnahme der chinesischen Massen, vor den Toren des weißen Amerikas. Hieraus ergibt sich ein geringfügig anderes Timing für den Bruch – mit den USA als tickende Uhr oder vielleicht tickende Zeitbombe – aber dafür umso bedeutsamer, da es die Unordnung erfasst, die lange nach außen floss und schließlich als eine Art Reflux in das sklerotische Herz der Hegemonie zurückfließt. Wenn die neoliberale Ära politisch, moralisch und wirtschaftlich einen inflationären Druck bezeichnet, der gebändigt werden musste (und dann zusammen mit dem Lebensstandard der amerikanischen Arbeiter zerstört wurde, wie Volcker berühmterweise zugab), was bedeutet dann die Rückkehr von politischen Ereignissen und Inflationsdruck heute? In den Regionen, die als Vorläufer und Laboratorium für die Chicago Boys und den Washington Consensus gelten, kehrt die Rosa Flut nach einer scheinbaren Ebbe wieder zurück, während im Herzen Europas zum ersten Mal seit der Pax Americana ein Zermürbungskrieg tobt. In Anbetracht dieser und anderer Tatsachen schien es vernünftig genug, sich zumindest zu fragen, ob wir an der Schwelle zu etwas Neuem stehen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Neoliberalismus alles gegeben hatte, was er zu geben hatte, und nichts mehr übrig war. Es gab keinen vorstellbaren Grund, warum es weitergehen sollte – oder wie es weitergehen könnte.

Aber auch wenn das Team Wir Sind Endlich Drüber Weg vor einem Jahr die Oberhand zu haben schien, war dies noch nicht die Zukunft. Als wir bei dieser unvergleichlichen Allegorie der Sackgasse ankamen – der Aufenthalt der Ever Given im Suez-Kanal – , feierte das Team Für Mich Ist Das Immernoch Neoliberalimus ein Comeback. Es ist immer sicherer, den Standpunkt einzunehmen, dass es „nichts Neues unter der Sonne“ gibt, und sich als weise auszugeben.

Wir müssen zugeben, dass sie Recht haben. Es gibt zwar eine ganze Reihe von Schreckensszenarien, die man aufzählen könnte – man könnte sie mit den wirtschaftlichen Trümmern auf der ganzen Linie beginnen; atavistische Nationalismen, massenhafte Gleichgültigkeit gegenüber dem Massensterben, der Beginn eines Bodenkriegs mit Atomwaffen in den Startlöchern, mediterrane Hitze in der Arktis, während mutige Politiker den neuesten IPCC-Bericht mit dem Stempel DRILL BABY DRILL versehen – bei all dem deuten die phantasmatischen Anklagen von oben über angespannte Arbeitsmärkte, verschwenderische Staatsausgaben und steigende Kriminalität darauf hin, dass es überhaupt keinen Bruch gegeben hat, selbst wenn die russischen Öl-, Gas- und Anleihezahlungen weiterhin das schrumpfende Königreich des Westens fluten. Aber das liegt vor allem daran (um wieder zu dem Punkt zu kommen, mit dem wir immer beginnen wollten), dass es eigentlich nichts gab, mit dem man brechen konnte. Zumindest nicht so, wie es der Volksmund behauptet.

Das große Nichts

Sind wir in eine neue Zeitrechnung eingetreten? Wie so oft liegt das Problem nicht in der Antwort, sondern in der Frage. Die Debatte selbst läuft Gefahr, die tatsächlichen Verhältnisse zu mystifizieren.

Schlimmstenfalls versprach der Neoliberalismus als Erklärungskonzept eine Art bewusste Koordinierung, ein Weltbild, das von den Höhen des Berges Pelerin und den Niederungen des Tidal Basin auferlegt wurde. Bestenfalls registrierte er, dass sich mit dem Zusammenbruch der wirtschaftlichen Entente der Nachkriegszeit tatsächlich etwas geändert hatte, dass es sich dabei aber eher um eine Erscheinung der Epoche handelte, um die Art von unbewusster Koordination, die Hayek einst im Namen des Marktes versprach. Er schlug eine Welt der isolierten Bedürfnisse und Wünsche, Forderungen und Interessen vor, die jedoch – das ist das Geheimnis – eine Art Einheit und Richtung hatte, die die Summe dieser Fragmente war. Schrecklich, offensichtlich. Voller Gegenwind, selbstverständlich. Aber selbst diese Gegenwinde, so wurde uns erklärt, boten eine Art Einheit, da sie uns zwangen, uns niederzuwerfen, um den schärfsten Böen auszuweichen. Eine Generation, die tief am Boden liegt. Es war ein Elend. Aber wenigstens existierte es, es war erkennbar, es hatte einen Namen. „Die neoliberale Ordnung“, wie sie in einem Artikel nach dem anderen erst triumphierend und dann mit wachsender Verzweiflung genannt wurde, mit einer weit ausholenden Geste in Richtung eines Ganzen, dessen Charakter zwar immanent war, aber nie ganz zum Vorschein kam.

Vielleicht war das katastrophalste Merkmal des Neoliberalismus jedoch der Glaube, dass er tatsächlich eine Ordnung sei. Das war er aber nicht. Er hatte zwar durchaus dauerhafte Merkmale: den Drang des Kapitals, die Arbeitermacht zu brechen, etwa, oder den rücksichtslosen Vormarsch der atomisierenden Marktlogik in alle Bereiche, aber diese können nicht die innere Logik einer bestimmten Periode sein. Sie sind dem Kapitalismus inhärent: am Anfang vorhanden, am Ende vorhanden. Wenn der „Neoliberalismus“ ein bestimmtes Entwicklungsniveau für diese Merkmale beschreibt (und wir sind nicht einmal sicher, ob er das tut), kann er nicht gleichzeitig erklären, wie sie dieses Niveau erreicht haben. Inzwischen scheint uns immer klarer zu werden, dass die Zeitspanne durch keine besondere soziale Koordination gekennzeichnet war, weder bewusst noch automatisch, weder befreiend noch bösartig. Weder das Kapital noch seine Antagonisten hatten einen wirklichen Plan. Der „neue Geist des Kapitalismus“ war Zermürbung, Extraktion und Erschöpfung. Das Wachstum endete und blieb am Ende. Bei allem Gerede über Überparteilichkeit und Polarisierung blieb die Mitte bestehen, eine graue Parade von Nekromanten, von denen einer nach dem anderen vorgab, die Akkumulation von den Toten auferstehen zu lassen. Es gab einen Haufen Pfadabhängigkeit. Dadurch wurde ein großer Teil einer weitgehend verarmten Welt weiter verarmt. Die letzten Jahre haben sich wirklich wie eine Art Übergang angefühlt. Und doch: Volatilität hat Volatilität nach sich gezogen, Sackgasse um Sackgasse.

Diese Erkenntnis ist ein Vorspiel, aber ein notwendiges Vorspiel. Es gibt keine neue Zeitrechnung, weil es keine alte gab. Fünfzig Jahre lang sahen wir zu, wie die größten Raubtiere in den Trümmern wühlten, plünderten, was übrig blieb, und es in die Penthouse-Wohnung hinauf saugten, ohne genügend Werte zu schaffen, um das Kapital selbst stabil zu halten. „Nichts, was nicht da ist und nichts, was ist“, schrieb der Dichter. Das ist die Welt seit 1965.

Wir sagen das nicht, um zu behaupten, dass es keinen Feind und keinen Kampf gibt, dass es keine Geschichte und keinen /Beweggrund/ gibt. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Wir müssen die Form und den Charakter dieses Kampfes, unsere historische Position neu begreifen. Die vorherrschende Logik in weiten Teilen des politischen Spektrums, von den klassischen Liberalen bis hin zur Linken, weist zwei miteinander verwobene Merkmale auf, die wir unserer Meinung nach hinter uns lassen müssen. Sie treten manchmal explizit, manchmal als unausgesprochene Voraussetzungen auf.

Das erste ist die vielleicht unvermeidliche, aber allzu oft ungeprüfte Vorgehensweise, erklärende Analogien aus vergangenen Momenten zu ziehen, die mit der Gegenwart eine ähnliche Form teilen, homolog sind, aber nicht dieselbe Dynamik oder das gleiche Zusammenspiel von Kräften haben können. Wir können immer wieder sagen, dass dieser Moment wie 1848 oder 1870 oder 1914 oder 1937 ist. Wir werden uns jedes Mal irren, und zwar entschieden irren. Die Linie, die nach oben geht, kann die Linie, die nach unten geht, nicht erklären, auch wenn es topologisch unvermeidlich ist, dass es auf jeder Linie einen Punkt gibt, der sich genau auf der gleichen Höhe befindet.

Die zweite, von der ersten nicht zu trennende Erkenntnis ist die, dass die Geschichte fortschreitend bleibt, in dem Sinne, dass es innerhalb einer alten Epoche etwas gibt, das sich entwickelt und aus dem das potenziell erlösende Neue geboren wird, auch wenn es ein monströses Interregnum dazwischen gibt. Es wird eine Aufhebung geben. Der gegenwärtige Zustand wird aufgebrochen und auf einer höheren Ebene neu gestaltet werden, wodurch sich die Kräfte umkehren und sich gegen die Kräfte richten, die sie hervorgebracht haben. Dies ist eine Erzählung, die über „die Dialektik“ existiert, wenn auch nicht die beste. Konkreter gesagt, ist es die Erzählung vieler liberaler und fortschrittlicher Bewegungen, die ihr Bild einer besseren Gesellschaftsordnung von der einen oder anderen Art von Wachstum abhängig machen – von sozialem Reichtum, Produktivkraft, Arbeitskräften, einem zunehmenden moralischen Niveau und so weiter.

Was unsere Zeit jedoch kennzeichnet, und zwar in einer Weise, die sich von früheren Strukturen eines Kapitalismus unterscheidet, der auf Siedlerkolonialismus und imperialer Expansion beruhte, sind die harten Grenzen, die solche Lösungen vom Tisch fegen. Das kapitalistische Wachstum hing selbst in seinen besten Zeiten von der Verelendung und dem brutal erzwungenen Werttransfer von einigen Gebieten auf andere ab; nicht einmal das ist im Angebot. Die Plünderung geht weiter, ebenso wie die Konzentration des bereits geschaffenen Wertes. Dennoch scheint die schrittweise, aber erstaunliche Akkumulation, die die industriellen Revolutionen begleitete, nun der Vergangenheit anzugehören. Lösungen, die auf einem solchen Wachstum, wirtschaftlicher Dynamik und großen Investitionen in wünschenswerte Technologien basieren, sind nicht in Sicht.

Das ist die eine Grenze. Die andere hat ihren Ursprung in der Vergangenheit. Stetig verbesserte Verfahren zur Datierung des anthropogenen Klimawandels lokalisieren ihn nun innerhalb weniger Jahre nach der Dampfmaschine von Boulton und Watt. Die Tatsachen des Klimakollapses setzen dem Wachstum noch härtere Grenzen als der sich selbst untergrabende Charakter der Mehrwertproduktion und machen es noch schwieriger, vergangene Koordinaten zu finden, an denen wir die Gegenwart messen können.

Das sind die Sackgassen der Gegenwart, und zwar schon seit geraumer Zeit. Man könnte argumentieren, dass es sich bei dieser Position um eine Art „Deklinismus“ handelt; wer könnte das bestreiten? Aber damit dies eine sinnvolle Kritik sein kann, muss man annehmen, dass der Weg nach vorn irgendwie den Glauben daran voraussetzt, dass eine emanzipiertere, weil produktivere Zukunft noch möglich ist. Der Ausweg führt leider nicht über Überzeugungen, sondern über Tatsachen.

Der ewige Kalte Krieg

Der Liberalismus, zu dem wir die große Mehrheit der Konservativen zählen, kann nicht widerstehen, auf den Kalten Krieg zurückzublicken, um sich einen Weg in die Zukunft vorzustellen. Dies ist der Kern seiner Nostalgie. Es ist wohl etwas großzügig, diesen Begriff für den Akt zu verwenden, der in einer fremden Vergangenheit nach Lösungen für die Rätsel der Gegenwart sucht. Aber Nostalgie ist eine Art von Phantasie, wenn auch eine, die das Utopische an der Phantasie aufgibt: die Möglichkeit eines Bruchs.

Der Konkurrenzkampf der USA mit der Sowjetunion im Kalten Krieg förderte einen strategischen Rahmen für eine politische Wachstumsökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg, der sowohl die Entkolonialisierung im Ausland als auch den Druck für zivile und wirtschaftliche Reformen im Inland berücksichtigte. In diesem Konzept bot eine auf die USA ausgerichtete Halbwelt, die sich gegen die sowjetische Diktatur stellte, die Möglichkeit, durch die Ausbreitung und aufgeklärte Aufsicht des Kapitalismus im Weltmaßstab „alle Boote zu heben“. Der Kompromiss zwischen Wohlfahrt und Kriegsführung in den USA versuchte, die vorherrschende globale Militärmacht mit einer moralischen Herausforderung zu verbinden, die darin bestand, die soziale Gleichheit und den Lebensstandard durch Klassenkompromisse und die Abschaffung von Zwangsmaßnahmen zu erhöhen, die durch den Anspruch auf rassische und zivilisatorische Überlegenheit definiert waren. Der Kalte Krieg versprach auf diese Weise einen tugendhaften Zustand des globalen Friedens und des Wohlstands im eigenen Land unter der gütigen Führung der USA. Diese Vision wurde unweigerlich widerlegt und immer wieder in Frage gestellt, wenn die Bevölkerung im In- und Ausland die US-Präferenzen ablehnte oder mehr verlangte als das, was angeboten wurde. Kriege, Putsche, Unruhen und Attentate folgten dicht aufeinander und forderten Millionen von Toten von Lateinamerika über Südostasien bis zur South Side von Los Angeles.

Die Katastrophen des Vietnamkriegs, die städtischen Aufstände Ende der 1960er Jahre, die Hunderte von US-Städten erschütterten, und der darauf folgende Energieschock der frühen 1970er Jahre zeigten das Scheitern der Synthese des Kalten Krieges. So hätte es enden sollen … Stattdessen wich der Konsens der fortschrittlichen Eliten, die eine Wirtschaft des Wachstums und einen „langen Frieden“ befürworteten, einer eher kriegerischen Vision der Vereinigten Staaten, die sich gegen die Bestrebungen für eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung und gegen Klassen- und Rassenkompromisse im eigenen Land stellte. Ronald Reagan sorgte für diesen Wandel, indem er versprach, den Kalten Krieg aufzuheizen, und es wurde ihm letztlich zugeschrieben, ihn gewonnen zu haben. Ein Jahrzehnt später begrub die erste groß angelegten US-Militärintervention am Persischen Golf das „Vietnam-Syndrom“ unter dem Banner einer „Neuen Weltordnung“. Es folgten die US-Abenteuer im Irak und in Afghanistan unter der Prämisse, dass der 11. September das geschaffen hat, was die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice als „Moment der Gelegenheit“ bezeichnete, um die Geopolitik durch die Kontrolle der USA über die Energiezentren der Welt dauerhaft neu zu ordnen. Die grundsätzlichen Ziele blieben die alten, von George Kennan formulierten: die Nutzung militärischer Macht im Interesse langfristiger Wohlstandsunterschiede ohne „ernsthafte Abstriche“ an der nationalen Sicherheit der USA.

Der globale Krieg gegen den Terror, d.h. diese jüngste, aber nicht mehr neue Umgestaltung der Politik des Kalten Krieges, wurde von einer immer stärker schwindenden sozialen Realität begleitet. Die Ausrufung des „Krieges gegen die Armut“ durch Lyndon Johnson im Jahr 1965 war der innenpolitische Höhepunkt der Wohlfahrtskriegsentente der Nachkriegszeit, die mit dem Versprechen der Eingliederung der Schwarzen in die „Wohlstandsgesellschaft“ untermauert wurde, während die fast gleichzeitige Ausrufung des „Krieges gegen die Kriminalität“ die Metastasierung des größten Gulag-Archipels der Welt einleitete. „Who needs the Negro?“, fragte sich der Soziologe Sidney Wilhelm und meinte, dass die Schwarzen, die in einer schrumpfenden Wirtschaft überflüssig sind, „den Weg der amerikanischen Indianer gehen werden“. „No Justice, No Peace!“ (Keine Gerechtigkeit, kein Frieden) wurde zur neuen Losung. Der Zermürbungskrieg hatte gerade erst begonnen.

Hier stoßen wir auf das Fundament – nicht auf das des Industriekapitalismus, der als tugendhafte Spirale des sich selbst erweiternden Wachstums verstanden wird, sondern auf das des Siedlerkapitalismus, der unter der Herrschaft der Akkumulationszwänge steht, aber zu einem Nullsummenspiel zurückgekehrt ist, das sich durch die Kunst des Betrugs und die Gewalt der direkten Aneignung definiert.

Was wäre, wenn wir in der zerrissenen Gegenwart den kolonialen Kapitalismus und die imperiale Rivalität wiederfinden, nicht als einen vergangenen Moment mit seinen Möglichkeiten, sondern als das Aufgreifen von Techniken zur Aufrechterhaltung einer Herrschaft, die keine Zukunft in sich birgt?

Der Punkt ist, dass der aktuelle Marktstaat nicht nur als eine Verarmung, sondern als parasitärer Auswuchs des nationalen Sozial- und Entwicklungsstaates zu verstehen ist. Dies war ein Ergebnis, das aus dem vorherigen Scheitern der Universalisierung des entwicklungspolitischen Projekts resultierte, das zuerst im Ausland und dann im Inland, in den USA selbst, zusammenbrach.

In dieser Hinsicht können wir am deutlichsten erkennen, dass die „neoliberale Ära“ nicht die Besonderheit aufwies, die einst für sie beansprucht wurde. Das Wesen der US-amerikanischen „Entwicklungs“-Politik in Übersee, von Lateinamerika bis Südostasien, bestand von Anfang an darin, neuen Formen der sog. Polizeihilfe, der Dezentralisierung des Staates, der privaten Delegation und strengen Systemen der Sozialfürsorge Vorrang einzuräumen, wobei die US-Berater versuchten, ganze Länder so umzubauen, dass sie die globalen Zentren der Kapitalakkumulation versorgen. Das zerklüftete und in Zeitlupe ablaufende Zerbröckeln dieses Arrangements ist sowohl Vorbote als auch Ausdruck der größeren Bewegung, die wir zu erfassen versucht haben und die uns in das grelle Licht der Gegenwart führt.

Die Spannungen zwischen China und dem Westen haben in dem Maße zugenommen, in dem China versucht, mehr als nur eine Werkstatt für US-Konzerne und ein Nutznießer der globalen Arbeitsarbitrage zu werden. Aus der Sicht der US-Eliten bedeutete dies das Ende des mehr als ein Jahrhundert währenden Traums davon, dass Chinas Märkte letztlich ihnen gehören würden – ein Verlust, der in den letzten Jahren die Grundklage der extremen Rechten in den USA wiederbelebt hat, die mit Beginn des Kalten Krieges auf der Weltbühne auftauchte und über den „Verlust von China“ tobte. Indem es sich der Eingliederung in die koloniale Sphäre des Westens entzog und sich eine relative Autonomie gegenüber dem US-Imperium während des Kalten Krieges bewahrte, stieg China von einem BIP, das 1980 dem von Haiti und Sudan entsprach, zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt im Jahr 2010 auf – eine erstaunliche Leistung.

Während die USA Schätzungen zufolge einen acht Billionen Dollar schweren Krieg im Irak und in Afghanistan führten und eine weitere Billion in das gescheiterte F-35-Kampfflugzeugprogramm steckten, gab China weniger als ein Fünftel dieses Betrags für seine „Belt and Road“-Initiative aus, deren Mitglieder inzwischen fast 50 % der Weltwirtschaft ausmachen. Auch wenn es zweifelhaft ist, ob China auf globaler Ebene die Nachfolge der USA als Hegemon antreten kann, so bleibt [die Hegemonie, Anm.d.Ü] doch ein Ziel, das sowohl die chinesischen als auch die US-amerikanischen Eliten derzeit anstreben. Wie Präsident Biden es kürzlich formulierte, hat China „das übergeordnete Ziel, das führende Land der Welt, das reichste Land der Welt und das mächtigste Land der Welt zu werden. Das wird unter meiner Aufsicht nicht passieren.“ Die vielleicht größte Errungenschaft Trumps wird der lang ersehnte operative Gegenspieler nach dem Kalten Krieg sein, der auf einem parteiübergreifenden Konsens darüber beruht, dass China die größte geostrategische Bedrohung des „American Way of Life“ darstellt.

Die zentrale geopolitische Frage der kommenden Zeit wird sein, ob die USA und China angesichts unterschiedlicher technologischer Systeme, differenzierter Regierungsführung und Kapitalmärkte friedlich miteinander auskommen können. Es wird eine Zeit hässlicher Anpassungen sein, die von einer planetarischen Umweltkatastrophe überschattet wird.

Einige werden angesichts der jüngsten Ereignisse versucht sein anzunehmen, dass der russische Einmarsch in die Ukraine das Narrativ ändern und die Glaubwürdigkeit der globalen Führungsrolle der USA und ihrer kriegerischen Ziele wiederherstellen wird, insbesondere im Zusammenspiel mit Europa. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland bereit ist, seine Militärausgaben in den nächsten zehn Jahren um einhundert Milliarden Euro zu erhöhen, und dass es nachweislich in der Lage ist, Wirtschaftssanktionen und moralische Entschlossenheit zu koordinieren, die dem Finanzkrisenmanagement unter der Schirmherrschaft der US-Notenbank in ähnlichem Maße entsprechen, behält der Westen zweifellos die Initiative. Was jetzt als russisches Abenteurertum erscheint, neben der typischen chinesischen Zurückhaltung (ganz zu schweigen vom Transaktionshandel mit venezolanischem und iranischem Öl), entlarvt Behauptungen über aufstrebende revisionistische Mächte als paranoiden Unsinn. Aber auch die Nostalgie des Kalten Krieges wird das schrumpfende Reich des Westens nicht wiederherstellen. Der russische Militarismus mag der Strohhalm sein, der das jahrzehntelange Austeritätsdogma in Europa zerbricht, aber es ist auch wahrscheinlicher, dass er die geopolitische Zersplitterung eines Zusammenhalts beschleunigt, der bereits durch die Nullsummen-Wertabwanderung von der Peripherie in den Kern der Eurozone geschwächt wurde, bei der, in den Worten von Matthias Kaelberer, „der Haushaltsüberschuss von jemandem das Defizit von jemand anderem sein muss“.

Wenn der Ukraine-Krieg eine Zäsur darstellt, dann insofern, als er die tausendjährigen Phantasien von einer amerikanischen Hypermacht, dem Ende des Endes der Geschichte, zu Grabe trägt. Aber Rüstungsausgaben werden niemals die Industriepolitik ersetzen, geschweige denn wiederbeleben. Vielmehr werden sie weiterhin verschwenden, verschmutzen und gesellschaftlich notwendige Ermessensausgaben verdrängen, soweit es sie gibt, und damit den Boden für die nächste Zerstörungsspirale bereiten. „Die Ursache des Krieges ist die Vorbereitung auf den Krieg“, wetterte der große W.E.B. Du Bois nach dem Ersten Weltkrieg. Die Militärausgaben werden zweifelsohne die Militärlieferanten antreiben. Aber der militärische Keynesianismus hat, wie alle anderen Keynesianismen auch, eher eine Vergangenheit als eine Zukunft. Das ist die andere Nostalgie, die wir im zweiten Teil behandeln werden.

II

Im zweiten Teil ihrer Serie über die globale Konjunktur untersuchen Nikhil Pal Singh und Joshua Clover unsere gegenwärtige wirtschaftliche und ökologische Sackgasse und suchen in den Ruinen nach den grünen Trieben der Solidarität und nach den „Öffnungen, die notwendigerweise vorhanden sind, wenn die Dinge auseinanderfallen“.

Im ersten Teil hatten wir die schlechte Angewohnheit, uns auf die Dialektik zu berufen. Aber lasst uns das Beste daraus machen. Wir haben auf die Unzulänglichkeit der rezipierten Version hingewiesen, die die Logik der Ablösung zu versprechen oder zumindest anzubieten scheint, nach der ein Zeitalter vergeht, wenn seine widersprüchliche Struktur aufgebrochen und auf einer höheren Ebene reformiert wird. Der führende Bezugspunkt für „höheres Niveau“ ist bei Marx die Produktivität, die zunehmende Fähigkeit, Gebrauchswerte zu produzieren. Wenn dies der konkrete Bezugspunkt ist, ist die Voraussetzung für diese Idee des Fortschritts das Wachstum im weiteren Sinne.

Aber schließlich verspricht die materialistische Dialektik, die darauf abzielt zu verstehen, wie die antagonistischen Elemente der sozialen Beziehungen der geschichtlichen Entfaltung eine tendenzielle Form geben, eher ein „Ist“ als ein „Soll“, eine Art und Weise, wie wir zu dieser Wende gekommen sind (d.h. also, genau das, was das Konzept des „Neoliberalismus“ nicht bieten kann). Es bietet eine wahre Erklärung nicht für ein unvermeidliches zukünftiges Wachstum, sondern dafür, wie wir einen Zustand erreicht haben, in dem Wachstum, die absolute conditio sine qua non des Kapitalismus, auf Gedeih und Verderb nicht mehr erreichbar ist, und wie dies, wenn es doch der Fall wäre, die Vergiftung des Planeten nur beschleunigen würde.

„Wir sind jetzt alle Keynesianer“, sagte der eine oder andere Präsident in der rosigen Morgendämmerung der angeblich anti-keynesianischen Ära. Diese Wahrheit würde schließlich nicht wenige Denker einschließen, die sich mit Marx und seinen Methoden identifizieren. Selbst in der radikalen Linken ist es das keynesianische Imaginäre, das die Wachstumsphantasie untermauert, mal explizit, mal implizit, eingebettet in alles, was als „New Deal“ bezeichnet wird, eingebettet in die imaginäre Lösung für reale Widersprüche, die „grünen Arbeitsplätze“, die den Rahmen für neue und alte Ideen bietet, dass Staatsausgaben alle Beschränkungen durchbrechen können, um Dinge zu subventionieren, in die das Kapital nicht investieren will: die Entwicklung „sauberer Technologien“, die Ausweitung der Beschäftigung und so weiter. Der Tugendkreislauf wird irgendwie wiederhergestellt, oder, was noch erstaunlicher ist, der Staat wird einfach die Tugend des Kapitals bis ins Unendliche vorantreiben und einen grünen Übergang finanzieren, dem gegenüber das Kapital offen feindselig und/oder strukturell gleichgültig ist.

Ein schöner Gedanke, wenngleich es angesichts der vorliegenden Beweise schwer vorstellbar ist, dass der Staat, selbst wenn so etwas möglich wäre, zu etwas anderem als durch eine revolutionäre Machtergreifung dazu veranlasst werden könnte. In der Tat ist dies ein aufstrebendes Ideologem der Gegenwart, das in einem Buch nach dem anderen auftaucht, von der politischen Jeremiade bis zur populären Science-Fiction: revolutionäre Gewalt im Dienste der politischen Reform. Dies ist ein echter Wunsch und eine echte Sackgasse. Aber wenn die Übernahme des Staates der Plan ist, sollten wir vielleicht etwas mehr verlangen als anhaltende Defizitausgaben.

Wir sollten jedoch von solchen Vorstellungen Abstand nehmen, zumindest für den Moment. Das sind also die Blockaden: Wir werden nicht über das Ende der Welt hinauswachsen. Es gibt auch keinen Weg zu denselben Zielen, die das Wachstum verspricht, aber irgendwie von seinen Bedürfnissen und Folgen abgekoppelt ist. Es handelt sich einfach um dieselbe Phantasielösung, die sich strukturell verändert hat: mehr Arbeitsplätze, mehr Produktionskapazität, mehr Umverteilung, und das alles überall, trotz einer Nullsummenwirtschaft. Und selbst wenn so etwas möglich wäre: Blub blub.

Müssen wir also NihilistInnen sein?

Es ist schon Schlimmeres passiert. Aber es ist auch erwähnenswert, dass die Vorstellung vom Ende der Welt uns in der Tat dazu zwingt, uns das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Um auf den ersten Teil zurückzukommen: Der katastrophale Niedergang durch die Pandemie und die Erkenntnis, dass die Trump-Ära Ausdruck eines Zusammenbruchs war, der schon viel länger im Gange ist. Sie lassen dieses Ende als eine Art Erleichterung erscheinen, die unweigerlich erschreckend ist, aber konkrete Anzeichen utopischer Möglichkeiten enthält. Oder vielleicht nur Andeutungen, dass wir uns die Möglichkeit eines kollektiven Gedeihens offen halten können. Utopischer geht es vielleicht nicht mehr. Es gibt nur eine Handvoll Enden, die in den Blick geraten und über die man nachdenken sollte, und zwar jenseits von politischen Reformen.

Wie bewegen wir uns mit und weg vom Deklinismus? Wie entreißen wir die Grammatiken der Transformation und der Emanzipation den Voraussetzungen des endlosen Wachstums oder seiner Begleiterscheinung, der reinigenden Runden der kreativen Zerstörung? Wir könnten mehrere Elemente vorschlagen, aus denen sich ein realistischer Antikapitalismus für die Linke zusammensetzen könnte – realistisch in dem Sinne, dass jedes von ihnen in den düsteren Falten des ersten Jahres der Pandemie, wenn auch nur für einen Moment, scharf beleuchtet wurde.

Im ersten Teil haben wir auf die umfangreichen Notausgaben hingewiesen, mit denen die Doxa der Austerität durch Einkommensbeihilfen und Schuldenmoratorien aufgehoben wurde. Bei einer Gelegenheit, die so selten ist, dass sie sich wie eine Epiphanie anfühlt, wurde unserer Gesellschaft ein Einblick in die Entkopplung von Lohnarbeit und Lebensunterhalt gewährt. Zweifelsohne war dies nur von kurzer Dauer und ungleich verteilt. Und wir wollen an dieser Stelle so deutlich wie möglich sein: Wir meinen nicht, dass die Reaktion auf die Pandemie gezeigt hat, dass der Staat in der Lage ist, soziale Bedürfnisse (oder die Klimakrise usw.) zu bewältigen, wenn er es will. In der Tat haben wir selten einen deutlicheren Fall von Knechtschaft des Staates gegenüber den Interessen des Kapitals gesehen – das genaue Gegenteil eines Beweises dafür, dass der kommunale Luxus nur durch ein Versagen des politischen Willens gehemmt wird.

Aber die kurzlebige Reorganisation der geldvermittelten gesellschaftlichen Reproduktion in ihren Grundoperationen spiegelte dennoch eine Öffnung wider – weder eine Forderung nach Vollbeschäftigung noch nach einem Grundeinkommen, sondern vielmehr ein Ende der Kommodifizierung der Arbeit. Die so genannte „Große Resignation“, die darauf folgte, war nichts anderes als ihr agitatorisches Korrelat, eine Rückgewinnung von Zeit für verschiedene Arten von Aktivitäten gegen die Lohnarbeit, die Auflösung der Grenzen zwischen unbezahlter Arbeit, die Suche nach neuen kooperativen Unternehmungen und Leidenschaften, weniger Pendeln, Zeit für die Erziehung von Kindern, das Aufblühen neuer Formen gegenseitiger Hilfe, die Fürsorge für Nachbarn und Angehörige. Zumindest erhellte sie die Wahrheit der sozialen Struktur, die so unaufhörlich verschleiert wird: Die Pflichtarbeit ist das, was einen umbringt, und man tut sie nur, weil sie Pflicht ist. Diese Erkenntnis hebt den Zwang natürlich nicht von selbst auf. Sie bietet diesen Zwang als das wirkliche Terrain des Kampfes an und nicht als den Nimbus der nominellen Rechte, der unaufhörlich als der Ort des Kampfes angeboten wird, und das könnte unseren Sinn für den Kampf, um den es geht, neu ausrichten.

Wenn „systemrelevante Berufe“ zur Zwangsarbeit (umgedeutet) werden, zeigen die Zeit- und Geldregen, die denjenigen zufließen, die an der Spitze der „Homeoffice“-Pyramide stehen, die Notwendigkeit auf, die Isolierung der Wissensökonomie aufzuheben. Anstatt Zeit zu kaufen und sich Umverteilungslösungen für den Niedergang der Massenproduktion auszudenken, können wir jetzt viel besser verstehen, wie wir im virtuellen Raum kollektiv zusammengeschweißt sind, welches kreative, kollaborative und lernende Potenzial dies ermöglicht und wie dieses erfasst, ausgebeutet und überwacht wird, um sich einen Teil der zirkulierenden Gewinne anzueignen und gleichzeitig die immer stärkere soziale Kontrolle durchzusetzen, die im langen Zwielicht der Lohndisziplin notwendig ist. Wir sind alles andere als Techno-Optimisten. Wir bezweifeln nicht, dass einige Technologien durch die Notwendigkeit der Reichtumsproduktion formbestimmt sind. Dennoch können wir die Frage stellen, ob einige der technischen Errungenschaften der jüngeren Geschichte – denken wir an Impfstoffe oder virtuelle Versammlungen – von der Hortung, dem Rent-Seeking und all den Verwendungen befreit werden könnten, die ihnen ihren sozialen Gehalt durch freie Weitergabe, dezentrale Anpassung und Nutzung und weltweite Verbreitung verliehen haben. Wir möchten noch einmal ganz offen sagen, dass dies die Zerschlagung des Kapitals erfordert, für die die Befürwortung lediglich eine Vorübung ist.

Nirgendwo wurden die neuen kollektiven Fähigkeiten gründlicher demonstriert, während sie gleichzeitig auf eine wirksame Quarantäne und Abschottung trafen, als in der mehr als zehn Jahre andauernden Bewegung der Plätze, die mit dem George Floyd-Aufstand im Frühjahr 2020 ihren Höhepunkt erreichte. Es hat viele Plätze gegeben. Es gab den Plaza de Armas und den Tahrir, den Oscar Grant Plaza und die Hälfte der Kreisverkehre in Frankreich.

Wir Linken neigen dazu, uns vorzustellen, dass wir in einer Welt leben, die für die kollektive Politik vergangener sozialer Bewegungen und Massenkämpfe verloren ist, auch wenn solche Bewegungen heute regelmäßig und in bisher unvorstellbarem Ausmaß und mit unvorstellbarer Intensität aufflackern und Feuer fangen. Darüber hinaus unterscheiden sich diese Formen sozialer Bewegungen weniger voneinander, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Sie werden durch die materiellen Merkmale kapitalistischer Umwälzungen und deren staatlicher Verwaltung hervorgebracht; sie sind in der Lage, begrenzte lokale Gewinne zu erzielen; sie hängen von kooperativen und kollektiven Sozialitäten ab; sie sind lokal, haben aber das Potenzial, aufeinander zuzuwachsen und zu einer größeren Einheit zu werden; sie sind nicht revolutionär, bis sie es sind; und sie laufen große Gefahr, in die Entwicklungslogik des Kapitals selbst zurückzufallen.

Das Pendeln zwischen Perioden großer und dynamischer sozialer Herausforderungen und Perioden der Repression und des Stillstands – lokal, regional, global – kann sicherlich die Erfahrung einer vergeblichen Wiederholung bieten. Es ist mehr als alles andere ein Bild für die janusköpfige Münze der Gegenwart, die zwischen Volatilität und Sackgasse hin und her schwankt. Wir erkennen an, dass die Methoden, um voranzukommen oder einfach nur auszusteigen, ihren Rhythmus aus der Gegenwart beziehen werden, und wir bleiben aufmerksam gegenüber diesen Bewegungen, genauso wie wir aufmerksam gegenüber ihrer korporativen und gemeinnützigen Vereinnahmung, den zentristischen und autoritären Wiederherstellungen gegenüber den radikalen Vorschlägen, die sie aufgestellt haben, sind.

Wenn es hier ein Axiom gibt, dann ist es das, dass die Macht des Volkes der zwanghaften, elastischen und unkontrollierbaren Macht der Polizei in unseren Gesellschaften ein Ende setzen muss. Dies ist der Horizont einer abolitionistischen Politik, die in den mühsamen und langjährigen Bemühungen um eine Reform des katastrophalen Strafrechtskomplexes sichtbar wird, der sich in den Vereinigten Staaten in den letzten 40 Jahren metastasiert hat, so dass ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung vorbestraft ist, während es ein Viertel der eingesperrten Bevölkerung des gesamten Planeten auf sich vereint. Was tut die Polizei eigentlich, um die alltäglichen Probleme anzugehen, die das Gefüge des täglichen Lebens in unseren ländlichen Bezirken, Vororten und Städten zerreißen – Opioidabhängigkeit, Alkoholismus, psychische Probleme, Wohnungslosigkeit, häusliche Konflikte, Straftaten wie Diebstahl von Windeln und Babynahrung? Dies ist nicht der richtige Ort, um über die Herausforderungen der öffentlichen Sicherheit und der wiederherstellenden Gerechtigkeit gegenüber kommunaler Gewalt zu urteilen, aber die Vorstellung, dass die Polizei die Antwort und nicht das Problem ist, war noch nie so klar wie heute. Sie ist das Problem, egal ob der Horizont ihrer Abschaffung nah oder fern ist. Ob man sich nun um die Abschaffung der Gefängnisse oder um die Abschaffung der Wertform bemüht, die Linie verläuft durch das Revier.

Nur wenige stellen die entscheidende Verbindung zwischen der nach innen gerichteten Polizeimacht und der nach außen gerichteten Gewalt des US-Imperiums her, obwohl sie innerhalb des einheitlichen Sicherheitsapparats, dem ein Großteil der Welt unterworfen ist, eine Einheit bilden. Er ist in rund 90 Ländern auf 800 Stützpunkten in Übersee stationiert, wird vom größten Teil der Bundesausgaben getragen und Jahr für Jahr durch einen überparteilichen Konsens gebilligt. Der Abzug der USA aus Afghanistan Ende letzten Jahres, nach zwei Jahrzehnten Krieg, hat seine schockierende Wahrheit deutlich gemacht. Welchen Auftrag und Zweck hat der US-Kriegsführungsstaat heute? Als weltgrößter Umweltverschmutzer, Waffenhändler und Nutzer fossiler Brennstoffe erfüllt das US-Imperium, das entstanden ist, um eine politische Ökonomie des Wachstums und eine „regelbasierte internationale Ordnung“ zu stützen, weder das eine noch das andere auf glaubwürdige Weise – falls es das jemals getan hat, falls dies jemals mehr als Feigenblätter der Macht waren. Solange die nationalstaatliche Ordnung fortbesteht, werden auch Konzepte wie die nationale Verteidigung fortbestehen. Aber so wie es jetzt offensichtlich ist, dass die größten Gefahren, denen die Menschheit ausgesetzt ist, eine grenzüberschreitende Koordination erfordern, ist es nicht weniger offensichtlich, dass es keinem konstruktiven Zweck dient, mehr Geld für militärische Zwecke auszugeben als der Großteil der übrigen Welt zusammen.

Der militärisch-industrielle Komplex der USA scheint unverrückbar zu sein, weil er mit der Logik der Kohlenstoff-Despotie, die der Eckpfeiler des Wachstumsliberalismus der Nachkriegszeit war, durch und durch verflochten ist. Glaubt irgendjemand wirklich, dass dieses Arrangement fortbestehen sollte, dass der Kauf von Zeit für die Energiewende uns in Wahrheit nicht dem Friedhof näher bringt? So wie das Pandemiefenster einen Blick auf das Ende der Arbeit und das Ende der Polizeiarbeit eröffnete, führte es zu einer plötzlichen und überstürzten Dekarbonisierung. In den ersten Tagen der Pandemie kehrte das Wild in die urbanen Landschaften zurück, und die Emissionen sanken in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Uns wurde veranschaulicht, was in ökologischer Hinsicht – direkt und sofort – durch die bloße Einstellung der Wirtschaft erreicht werden kann.

Selbst wenn Ihr unsere anderen Thesen akzeptiert, wird das, was wir als Realismus bezeichnen, höchstwahrscheinlich in Frage gestellt werden. Diese Phänomene waren vorübergehend, sie waren metaphorisch. Zweifellos. Wir sind nicht davon überzeugt, dass dies ihre Wahrheit ausschließt. Unsere Abhängigkeit von den bestehenden Komplexen, die Produktion, Arbeit, Regierungsführung und Lebensunterhalt miteinander verknüpfen, ist unbestreitbar. Wie könnten wir nicht „die Wirtschaft neu starten“ wollen, wie es so schön heißt. Worin besteht aber der zugrunde liegende Konflikt? Inwieweit liegt er zwischen denjenigen, die Vorteile aus dieser Wirtschaft ziehen, die sie nur ungern aufgeben wollen, und denjenigen, die einfach von ihr abhängig sind? Was hat eine Klimageflüchtete von linker Realpolitik zu erwarten?

Das Ende der Lohnarbeit, das Ende der repressiven Staatsgewalt, das Ende der Kohlendioxid-Despotie, das Ende des Imperiums: Im Kontext des pandemischen Notstands wurden die Grundzüge jeder dieser Thesen lesbar gemacht.

Zwei Jahrzehnte Krieg, Finanzkrise, staatliche Dysfunktion und Klimaverschlechterung spitzen sich in der Politik der Gegenwart allmählich zu. Der verzweifelte Versuch, die Unbeständigkeit zu ordnen – nicht irgendeine Sackgasse, unsere Sackgasse, das ist der einzige Schlachtruf des Feindes – ist der Weg des Todes. Die Mitte hält sich kaum noch, der Faschismus ist nur noch auf Eis gelegt. Trotz der offensichtlichen Unruhe auf der Straße sind die Kollektive, die für soziale Umwälzungen notwendig sind, noch nicht entstanden. Wir haben eindeutig eine Theorie dessen, was nicht sein kann, aber noch nicht, was erreicht werden kann und wie man dorthin gelangt. Nichts ist anstrengender oder notwendiger als die Verbreiterung und Stärkung der Basis der Solidarität gegen wiederauflebende Ethno-Nationalismen und Großmachtwahn, der Kampf gegen Rassismus und für ein Ende der rassischen Kategorisierung, der Kampf für Leben und Leben lassen in unserer verkörperten Vielfalt bei gleichzeitiger Pflege einer Ethik der universellen Fürsorge. Diese Vorschläge sind weniger Zeichen unserer Hoffnung als vielmehr ein Versuch, uns daran zu erinnern, wer wir sind, zu sehen, was existiert, die Möglichkeiten zu erkennen und offen zu halten, die notwendigerweise vorhanden sind, wenn die Dinge auseinanderfallen, und unser gemeinsames Ziel zu rekonstruieren: eine Grundlinie und ein Hintergrundbild für diejenigen, die Partei ergreifen und die Möglichkeit eines gemeinsamen Gedeihens bewahren wollen.


Joshua Clover ist Autor von sieben Büchern, darunter Riot. Strike. Riot: the New Era of Uprisings (Verso 2016/2019), auf deutsch erschienen als Riot. Strike. Riot: Die neue Ära der Aufstände (Galerie der abseitigen Künste 2021). Er arbeitet an Two Problems, Two Limits, the Rev, FKA “value theory for the end of the world und lehrt an der University of California Davis.

Nikhil Pal Singh ist Professor für Sozialwissenschaften, Kulturanalyse und Geschichte an der NYU und Fakultätsleiter des NYU Prison Education Program. Sein neuestes Buch ist Race and America’s Long War (University of California Press 2017). Reconstructing Democracy erscheint 2023.

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