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Antifa-Roman

2 | Monate vorher

Noch weiß Marc Brenda nichts von diesem Moment, der sein Leben verändern wird. Er hat keine Ahnung, was ihn in den nächsten Monaten erwartet. Der Schüler steht vor einer gigantischen Naziparole, gesprayt auf die Wand seiner Schule. Er schüttelt den Kopf. Ihn schaudert. So etwas ist hier noch nie passiert.

„Flüchtlinge ins Meer“

„NSU – Juchuu!“

„Zecken, wir kriegen euch.“

Dazwischen Hakenkreuze und SS-Runen.

Marc kann es nicht fassen.

Was ist das denn? Wo kommt das her? Wer war das?

Sein Freund Stefan tritt neben ihn.

„Das glaube ich jetzt nicht“, sagt er. „Naziparolen an unserer Schule?“

Marc läuft es kalt den Rücken herunter.

„Das ist ja übel.“

„Jetzt weiß ich auch, warum die Polizei da ist.“ Stefan wunderte sich schon darüber, als er sein Fahrrad in den Ständer schob.

Die Polizisten sprachen mit Hausmeister Weitzel. Der Widerling in grauem Kittel, Cordhose, ausgelatschten Schuhen und kariertem Hemd ist der Feind aller Schüler der Leibnizschule in Wiesbaden.

Weitzel stinkt nach Kippen, ist unrasiert und immer unfreundlich. Er ist ständig auf der Hut. Das Leben ist gegen ihn. Vor den Ordnungshütern gab sich der Bückling alle Mühe, ordnungsgemäß Auskunft zu erteilen. Er wirkte, als ob er vor den Blauuniformierten stramm stünde. Ein typischer Blockwartcharakter. Hinterhältig, schleimig, rotgesichtig. Typ Vollversager mit Herumschreigehabe. Ätzend.

Stefan beobachtete ihn und dachte: Fehlt eigentlich nur noch, dass er nach jedem Satz die Hacken zusammenknallt, die Hand an die Mütze legt und „Jawohl, Herr Wachmeister“ brüllt.

„Meist du, das waren die Rechten?“, fragt Marc.

Stefan zögert mit der Antwort.

„Bisher haben sie so was nicht gemacht. Keine Ahnung.“

„Ich würde es ihnen schon zutrauen. Nur weil sie bisher nur Sprüche gemacht haben, heißt das nicht, dass sie nicht auch so was machen würden. Außerdem haben wir keine Ahnung, was sie außerhalb der Schule wirklich treiben.“

„So’n Rassisten-Kram meinst du?“

„Ja. Irgendwas. Eben mehr, als hier in der Schule rechtsextreme Scheiße abzusondern“, antwortet Marc. „Die paar Dinge, die wir wissen, deuten ja darauf hin.“

Der Chef von den Schülern, von denen Stefan und Marc sprechen, heißt Peter Müller. Er ist der Älteste, schlau, smart, mit Hipsterbart und Holzfällerhemd. Keiner würde ihn für einen Rechten halten.

„Vielleicht war es ein Fehler, zu denken, dass nur Peter Müller ein Nazi ist“, sagt Marc. „Und die anderen nur Mitläufer.“

„Ja, das war vermutlich naiv“, antwortet Stefan. „Aber von ihm wissen wir ganz sicher, dass er in einer autonomen Kameradschaft ist. Was die anderen so machen, davon haben wir kaum einen Plan.“

„Komm, wir müssen rein“. Marc schiebt Stefan in Richtung Schulgebäude.

Ihr Weg führt an der Gruppe der Rechten vorbei. Sie stehen wie immer an der gleichen Stelle auf dem Schulhof und rauchen. Marc kann sie nicht ausstehen.

„Sie wirken irgendwie aufgedreht“, flüstert Marc. „Findest du nicht?“

„Doch, allerdings“, antwortet Stefan.

Als sie um die Ecke laufen, entdecken sie noch mehr Parolen.

„Ausländerpack abschieben“

„Linke ab nach Nordkorea“

„Wir kriegen euch alle“

Marc bleibt stehen.

„Die haben ganze Arbeit geleistet.“

„Ich dachte immer, dass es Nazis nur weit weg gibt, im Osten. Da habe ich mich wohl getäuscht.“

„Dieses Pack an unserer Schule, das hat uns gerade noch gefehlt. Da habe ich echt keinen Bock drauf.“

Marc ist ein durchschnittlicher Schüler. Ein Meter achtzig groß, blond, blaugraue Augen. Er ist ein völlig unauffälliger Typ. Eigenschaftslos, ohne Ecken und Kanten. Marc wirkt langweilig. Er hat keine Ahnung von Klamotten, Musik und Lifestyle. Er hasst Instagram und Sport. Nur wer ihn näher kennenlernt, entdeckt Eigenschaften wie Loyalität, Empathie, Großherzigkeit. Und noch etwas fällt nach einiger Zeit auf: Er ist für sein Alter ziemlich ausgeglichen. Die Berufsberatung würde ihm wahrscheinlich Pfarrer vorschlagen. Oder Buchhalter.

Als sie nebeneinander den Klassenraum betreten, könnte der optische Kontrast zwischen den beiden Jungs nicht größer sein.

Stefan ist das Gegenteil von Marc: lässiger Hoody, beigefarbene Militärhose, stylische Skaterschuhe, ausgeblichener Rucksack. Lange rote Haare, grüne Augen. Stefan ist hip. Megahip. Sportlich, klug, mutig. Typ Windsurfer. Die Mädchen stehen auf ihn.

Mehrmals die Woche trainiert er Kung-Fu. Er trägt den blauen Gürtel und absolviert Wettkämpfe. Seine Gegner unterschätzen den weich wirkenden Schönling regelmäßig. Sein Gürtel täuscht sie. Eigentlich könnte er schon lange mit dem braunen Gürtel herumlaufen. Aber er gehört zu Stefans Taktik, dass seine Gegner ihn falsch einschätzen. Seine vielen Pokale beweisen, dass seine Strategie funktioniert.