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Geschichte

40 Jahre irisch-republikanischer Hungerstreik: Von der Guerilla zur Bürgerbewegung

Von: Swissfenian

Am 1. März 1981 begann Bobby Sands, als erster einer Reihe inhaftierter republikanischer Gefangener, einen Hungerstreik in den berühmten H-Blocks. Das Maze Prison, so der offizielle Name, bildete für die republikanische Bewegung sowohl eine Lebensschule als auch ein immer wiederkehrender Ort, um die Massen zu mobilisieren und rekrutieren.

Die Reihe „40 Jahre irisch-republikanischer Hungerstreik“ erzählt die Geschichte des Hungerstreiks, mit all seinen Vorbedingungen in der ruhelosen Geschichte des irischen Befreiungskampfes.


Im Süden Irlands, welcher nach dem Ende des Bürgerkrieges nur noch selten Schauplatz von Aktivitäten der IRA war, wurde der besetzte Norden innerhalb der Bevölkerung immer weniger zum Thema. Die Sorgen waren andere und die Probleme des Nordens insgesamt zu weit weg. Dies zeigte sich bereits zum Ende der Border Campaign, vielen Bewohner*innen des Südens waren die Realitäten im Norden schlichtweg unbekannt. Einzig in den Grenzregionen, also den irischen Grafschaften der Provinz Ulster, blieb die Thematik auch nach der Grenzkampagne aktuell. Hier war die Realität des Nordens schon geographisch um einiges näher. Die Menschen bekamen eher Wind davon, wenn im Norden wieder Häuser brannten. Dies wurde nämlich bald einmal zur regelmäßigen traurigen Realität. Insbesondere in den Arbeiter*innenviertel von Belfast kam es zu Vertreibungen von Andersgläubigen. Die Opfer dieser Vertreibung waren zum Großteil Angehörige des katholischen Glaubens. Michael McCann beschreibt in seinem Buch „Burnt Out“ detailliert und genau wie es dazu kam. Einige wichtige Ereignisse, die auch offiziell als Beginn der Troubles gelten, werden im Folgenden genauer beschrieben.

Die IRA war, wie im ersten Teil kurz beschrieben, zu Anfang der 60er Jahre praktisch am Ende. Die Grenzkampagne war ein einziges Desaster und konnte weder die Massen mobilisieren, noch die Polizei und den Staat des Nordens in Gefahr bringen. Das Gegenteil war der Fall, zahlreiche Volunteers waren demoralisiert und verhaftet. Viele meldeten sich nach Ende der Gefängnisstrafen nicht mehr zurück zum Dienst. Mitte der 60er Jahre wurde der bewaffnete Kampf von der Führung der IRA als perspektivlos betrachtet. Eine Veränderung der Gesellschaft und ein unabhängiges Irland sollte mittels Agitation in der Arbeiter*innenklasse stattfinden. Dabei sollten bewusst auch loyalistische und unionistische Arbeiter*innen angesprochen werden. Antisektiererische Agitation wurde höher gewichtet als das Training an den Waffen oder sonstige militärische Ausbildungen, welche Veteran*innen von früher gewöhnt waren. Dies sorgte bei republikanischen Hardliner*innen und Veteran*innen auch zu Verwunderung. So berichteten einige langjährige Aktivist*innen, dass sie regelrecht schockiert waren, als sie nach ihrem Gefängnisaufenthalt wieder in die Reihen der IRA eintraten. Die IRA war gemäß ihren Meldungen zu einem handzahmen Debattierclub verkommen. Dies mag durchaus zutreffen. Doch war die Idee der Führung, die Arbeiter*innenklasse in ihrer Gänze zu mobilisieren, nicht verkehrt.

Für deren Idee sprach unter anderem, dass sich die Schwerindustrie im Norden in einer Krise befand. Diese war traditionell eine der stärksten Arbeitgeber*innen in der Region. So beschäftigte zum Beispiel die Schiffsbaufirma Harland & Wolff zu Höchstzeiten um die Jahrhundertwende über 30.000 Arbeiter*innen. (Zur Zeit der Insolvenzanmeldung 2019 waren nur noch noch 123 Arbeitende beschäftigt. Diese bekamen für ihren Streik, zu ihrem eigenen Erstaunen, erstaunlich viel Solidaritätsbekundungen von republikanischen Organisationen.)

Von 1909 bis 1912 wurde in der Werft von Harland & Wolff die weltberühmte „unsinkbare“ Titanic gebaut.

Die Arbeitslosigkeit der besser ausgebildeten Protestant*innen stieg in den Jahren 1963 bis 1966 stark an. Daneben forderte die schlechter ausgebildete katholische Arbeiter*innenschaft vermehrt gleiche Rechte. Doch innerhalb der dominierenden protestantischen Gesellschaft machten sich eher loyalistische Hardliner, anstelle von sozialistischen Agitatoren, breit. Der baptistische Pfarrer Ian Paisley fand in diesen Jahren endlich eine Bühne für seine jahrzehntelange Hetze gegen alles vermeintlich Katholische und Irische. Obwohl er bereits seit 1949 versuchte politisch zu agitieren, war es erst die Krise der 60er, die ihm eine öffentliche Relevanz verschaffte. Leider trafen seine sektiererischen und fundamentalistischen Tiraden die Herzen der loyalistischen und unionistischen Arbeiter*innen besser als alle sozialistischen und kommunistischen Parolen des Umsturzes und Fortschrittes. Die protestantische Arbeiter*innenschaft sah in ihren katholischen Klassengenossen, bald einmal eher bedrohliche Feinde, anstelle von Kampfgefährt*innen. Paisley hetzte gegen jede mögliche Annäherung zwischen dem Norden und dem Süden Irlands, gegen jegliche Gleichstellung der katholischen Minderheit, gegen alle Schreckensgespenster des Kommunismus und auch gegen seiner Meinung nach zu wenig radikale Protestant*innen. Damit traf er über die Jahre den Nerv der loyalistischen Bevölkerung. Ein eindrückliches Beispiel von Paisleys Aktivitäten liefert das Jahr 1964.

Der republikanische Wahlkandidat für die Westminsterwahlen Billy McMillen (Sinn Fein nahm damals nicht offiziell an Westminsterwahlen teil und McMillen war daher nicht offiziell SF-Kandidat) hängte in seinem Wahlkreis West Belfast eine irische Trikolore ins Schaufenster seines Büros. Jedoch war es gemäß Gesetz zu dieser Zeit verboten, eine Flagge, welche den Frieden brechen könnte, zu präsentieren. Daher lief Ian Paisley Sturm, er drohte damit, in die Falls Road zu marschieren und die Flagge persönlich mit seinen Anhäger*innen zu entwenden. Die RUC (Royal Ulster Constabulary, Polizei Nord-Irlands bis zu ihrer Umbenennung in PSNI 2001)ging daraufhin zum Büro von McMillen und entfernte die Fahne, Paisley sagte danach den Marsch ab. Als erneut eine Fahne aufgehängt wurde, konfiszierte die RUC diese erneut und es kam zu heftigen Riots in West Belfast. Diese erlangten Bekanntheit unter dem Namen Divis Street Riots.

Aufnahmen der Associated Press von den damaligen Ereignissen.

Es muss dazu gesagt werden, dass Belfast leider eine lange Tradition von radikalen fundamentalistischen Priestern vorzuweisen hat. Der erste bekannte ist Henry Cooke, welcher bereits ab den 1820er Jahren einen massiven Antikatholizismus verbreitete. Die Separierung und Unterdrückung der Gesellschaft wurde immer wieder aktiv gefördert. Dennoch gab und gibt es bis heute Aktivist*innen protestantischen Glaubens, welche für ein vereintes Irland kämpfen. Die bekannteste historische Persönlichkeit dürfte Theobald Wolfe Tone sein. Der Anwalt war einer der Anführer der United Irishmen, welche 1798 eine gescheiterte Rebellion gegen die britische Besatzung starteten. Das Grab von Wolfe Tone wird bis heute von praktisch allen republikanischen und sozialistischen Organisationen einmal im Jahr mit Besuchen beehrt. In den Hochphase der Troubles gab es dabei auch wegweisende Reden zur Zukunft der Bewegung. Wolfe Tone gilt zudem bis heute als wichtigstes und mahnendes Beispiel für eine konsequente antisektiererische Politik. Der Name Wolfe Tone war 1963 innerhalb der republikanischen Bewegung dann auch in aller Munde. Zum 200-jährigen Geburtstag von Wolfe Tone entstanden in Irland zahlreiche Wolf Tone Societies, diese standen unter der Führung wichtiger linker Kader der republikanischen Bewegung. Die IRA selber wurde zum gleichen Zeitpunkt von Cathal Goulding, einem überzeugten Marxisten, geführt. Dieser drängte den Kurs der IRA auch wieder vermehrt in Richtung der Theorien früherer sozialistischer Persönlichkeiten in der republikanischen Bewegung wie z.B. James Connolly, Peadar O’Donnell oder auch Stephen Coughlan.

An einem Treffen aller Wolfe Tones Societies 1966 wurde der Beschluss gefasst, eine Bürgerrechtskampagne zu starten. Goulding war als IRA Chef ebenfalls an dem Treffen beteiligt und versprach die Unterstützung der IRA. Die offizielle Gründung dieser zog sich noch bis zum 9. April 1967 hin. An diesem Tag gründete sich schließlich die NICRA (Northern Ireland Civil Rights Association) in Belfast. Unter den Gründer*innen fand sich ein 13-köpfiges Leitungskomitee ein. Dabei waren neben republikanischen und IRA-Aktivist*innen auch Gewerkschaftsmitglieder, Kommunist*innen, Liberale aber auch Unionist*innen aus dem Norden Irlands vertreten. (faktisch nur 1 gemäßigter Unionist)

Theobald Wolfe Tone

Ungefähr zur gleichen Zeit wurde auf protestantischer Seite 1966 die Ulster Volunteer Force als loyalistische Paramilitärorganisation neu gegründet. Die erste UVF wurde bereits 1912 gegründet und verfügte beinahe über 100.000 Mitglieder. Die UVF der 60er Jahre begann bereits im Mai 1966 mit bewaffneten Aktionen gegen vermeintliche IRA-Mitglieder. Noch bevor die berüchtigte Provisional IRA, welche gerne als Auslöserin der Troubles gesehen wird, überhaupt gegründet wurde, erschossen loyalistische Paramilitärs bereits mehrere Menschen. Kaum verwunderlich verfügte Ian Paisley über gute Kontakte zur UVF Führung um Gusty Spence.

Die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung lagen praktischerweise von Anfang an auf der Hand. Die unionistische und loyalistische Dominanz und Bevorteilung gegenüber der katholischen Bevölkerung musste gebrochen werden. Die dringenden Punkte dabei waren zum einen die Vergabe und Verteilung von Wohnraum, die Vergabe von Jobs, das Wahl- und Stimmrecht und die Polizei. Die Polizei (RUC) bestand in den 60er Jahren aus beinahe 90 Prozent Protestant*innen. Die Reserveeinheit der RUC, die Ulster Special Constabulary (USC), blieb ihrem Namen treu bis zum Schluss. Sie war durchtränkt von loyalistischen Paramilitärs und blieb bis zur Auflösung eine rein protestantische Einheit. Diese 1920 zu Zeiten von Unruhen im Süden und im Norden gegründete Paramilitäreinheit, blieb trotz starker Proteste, unter anderem auch durch die NICRA, bis 1969 bestehen. Viele USC-Mitglieder fanden aber schon bald darauf im neugegründeten und bei weitem nicht weniger berüchtigten Ulster Defence Regiment (UDR) einen neuen Job. Der einzige Unterschied zum vorherigen Arbeitgeber: die Einheiten standen nun unter dem Kommando der britischen Armee.

Edward Carson, Gründer der UVF, bei der Besichtigung der Truppen 1914.

Im politischen Rahmen wurde im Norden mittels Gerrymandering die Anzahl politischer Vertreter*innen bewusst kontrolliert und gesteuert. Zudem wurde von politischer Seite der Unionist*innen und Loyalist*innen, immer wieder vor der IRA als unmittelbare Gefahr für die eigenen Leute gewarnt. Hierbei wurden jegliche Realitäten außen vorgelassen und die IRA in einer Stärke wie zur Höchstphase der Revolution präsentiert. Dieser Mythos rettete zu Beginn der Troubles vermutlich einige Menschenleben und ganz bestimmt Häuser und Kirchen in Belfast vor der Zerstörung.

Die Einheit der Arbeiter*innenklasse lag 1968 in weiter Ferne. Unter der Hetze Paisleys driftete die unionistische Seite vermehrt in Richtung Sektierertum. Ein Zitat von Brendan Hughes, einem legendären IRA-Volunteer und überzeugtem Sozialisten, zu seiner Jugend in einem protestantisch dominierten Viertel, beschreibt die Situation über die Jahre gut:

„Over the years, we kids were in constant fights with our Protestant neighbours. Eventually we were accepted, until the marching season would come round, the July period. I never had any friends during that period, no Protestant friends. They would all go off to beat the Orange drums and so forth. So recutantly we were accepted, but it wasn’t easy. I remember one particular day having to fight this person three times on the one day – he was the local Protestant hard man and his mother just coluld not accept the fact that he was beaten by a Taig and sending him back. There was one old woman, she was in her nineties, Mrs McKissick, and every time I walked past her door, she would spit on me; every Sunday she would shout – this is a woman sitting outside her front door, bigoted old woman – „Did you bless yourself with the Pope’s piss this morning?“ But around the July period that got worse.“

Dies war bei Weitem nicht nur bei Hughes die tägliche Realität. Der Norden Irlands war faktisch ein soziales Pulverfass, welches regelmäßig vor einer Explosion stand. Insbesondere in Belfast kam es immer wieder zu Wohnungsvertreibungen. Es dürfte die Leser*innen erstaunen, aber genau zu diesem Zeitpunkt verkaufte die IRA einen Teil ihrer Waffen an eine dubiose Armee Freies Wales. Die IRA ist somit als bewaffnete Guerilla weder für den Norden noch für den Süden Irlands eine Gefahr. Die Gefahr der Erschütterung geht dieses Mal von einer zivilen unbewaffneten Bürgerinitiative aus. Die NICRA startete ab dem Frühling 1968, durchaus auch inspiriert von der Bürgerrechtsbewegung in den USA, einige Protestmärsche. Diese bleiben erstaunlich ruhig, bis es im Oktober in Derry zu massiven Konflikten zwischen Demonstrant*innen und der RUC kommt. Hierbei steht die RUC in der Schuld, die bis dahin friedliche aber nicht bewilligte Demonstration, mittels Schlagstöcken und Wasserkanonen massiv angegriffen und so die Gewalt zum eskalieren gebracht zu haben. Daraufhin kommt es zu zweitägigen Riots in Derry. Kurz danach gründet sich in Belfast eine weitere relevante Bürgerrechtsbewegung. Die People’s Democracy (PD), eine studentisch geprägte Gruppierung, betritt mit fünf Forderungen die glühende Bühne Irlands. Die PD fordert mit „One man, one vote“ ein Ende des Gerrymanderings, die Rede- und Versammlungsfreiheit, fairen und gleichen Zugang zu Wohnraum und Jobs und das Ende des Special Power Acts. Sie startet am 1. Januar 1969 einen Protestmarsch von Belfast nach Derry. Der Marsch startet mit wenigen Mitgliedern und wird auf der ersten Etappe und insbesondere der letzten, massiv von Loyalisten angegriffen. Die RUC stand dabei unbeteiligt daneben oder war zumindest im Rahmen von Reservist*innen aktiv daran beteiligt. In Derry führte dieser Angriff erneut zu massiven Riots. Die Anspannung bleibt daraufhin konstant auf einem hohen Niveau. Im April und Mai verursacht die UVF sechs Anschläge auf Infrastruktur der Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Diese Anschläge werden der IRA in die Schuhe geschoben, um politische Reformen wie one man one vote zu verhindern. Daneben kam es immer wieder zu spontanen Riots in den größeren Städten. In Derry wird Samuel Devenny durch die RUC zu Tode geprügelt. Seine Angehörigen fordern immer noch die Herausgabe geheimer Dokumente, welche seinen Tod betreffen. Und dennoch sollte es noch bis zu der traditionellen Marschsaison der Unionist*innen und Loyalist*innen im Sommer dauern, bis die Situation im Nordens komplett außer Kontrolle gerät. Die Paraden zum zwölften Juli verlaufen noch einigermaßen glimpflich. Danach brennt es überall.

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