Kategorien
Antifa-Roman

5 | René I

René sitzt mit Isabella im Eiscafé Cortina und rührt in seinem Espresso.

„Wie lange hast du eigentlich insgesamt gesessen?“

„Zwölf Jahre.“

„Und du bekamst keine Haftverkürzung?“

„Nein, aber woher weißt du denn, was das ist?“

„Das haben wir gerade in der Schule.“

Isabella ist Marlenes Schwester und hat Halsweh. Vor ihr steht ein Vanilleshake. Die Kühle lindert die Schmerzen.

„Also, warum?“

„Ich war genau 4.384 Tage drin. Mir wurde kein Tag geschenkt, weil ich keine Aussagen gemacht habe.“

„Was für Aussagen?“

„Wir waren ja fünf, die die Bank überfallen haben. Ich wurde als Einziger erwischt und habe die anderen nicht verraten.“

Dass er überhaupt gefasst wurde, war ein dummer Zufall. Der Überfall lief wie geplant. Ein Schuss in die Decke, und die Angestellten stopften ihnen die Reisetaschen mit Geld voll. Insgesamt über 100.000.000 Lire, mehr als 50.000 Euro. Drei Minuten dauerte der Spuk, dann waren sie spurlos verschwunden. Die Kameras der Bank konnten sie nicht identifizieren, alle fünf hatten sich perfekt als ‚türkische Gastarbeiter‘ verkleidet. Das bestätigten auch die Zeugenaussagen. Also ermittelte die Polizei von Anfang an in die falsche Richtung. Türkische Täter waren für rassistische Beamte ein gefundenes Fressen. René und seine Mittäter hatten genau darauf spekuliert. Auf Vorurteile kann sich eben verlassen …

„Für mich ist Verrat das Schlimmste, was es gibt. Die anderen stammten alle aus meiner Organisation. Alle Kommunisten, treue Gefährten und Freunde. Wir hatten schon viel zusammen gemacht.“

„Für was war das Geld überhaupt?“

„Für eine Druckerei der Bewegung. Die druckten Plakate, Flugblätter und Bücher für alle politisch linken Gruppen.“

René schaut Isabella an. Er nippt an seinem Espresso.

„Es gab damals ja noch kein Internet. Nur mit Papier konnten wir unsere Ideen und Forderungen unter die Leute bringen. Damals, Anfang der 80er Jahre.“

„Kann man sich heute kaum noch vorstellen.“

„Mit dem Geld wurde die Druckerei mit neuen Maschinen ausgerüstet.“

„Du hattest also gar nichts von dem Geld?“

„Keinen Cent. Mailands linke Gruppen bekamen enormen Auftrieb, als plötzlich Flugblätter und Plakate die Stadt überschwemmten. Das war unser Lohn.“

Isabella saugt an ihrem Strohhalm.

„Und warum wurdest du erwischt?“

„Wegen der abgefeuerten Kugel aus meiner Waffe. Die forensische Analyse der Polizei hatte ergeben, dass die Waffe bereits registriert war: Ein Heroindealer hatte damit einen Konkurrenten erschossen. Die Waffe wurde nie gefunden. Nun tauchte sie wieder auf, die Spuren auf dem Projektil waren identisch.“

„Ja und?“, fragt Isabella. „Hattest du den Revolver denn noch?“

„Nein und ja. Wir hatten ihn in einem geheimen Depot untergebracht, wo wir viele illegale Dinge lagerten. Darauf hatten viele Genossinnen und Genossen Zugriff. Solche Depots müssen ab und zu mal umziehen. Aus Sicherheitsgründen. Einen davon machte ich. Ich wurde angehalten und hatte den Revolver im Auto.“

Die Ermittlungen hatten ergeben, dass die Kugeln des Mordes und in der Decke aus dieser Waffe stammten. René hatte sie bei einem Typen gekauft, der versicherte, dass die Waffe sauber sei. Sie war also angeblich noch nie irgendwo bei einem Verbrechen benutzt worden. Er hatte gelogen. Und er war polizeibekannt. Als die Polizei bei ihm routinemäßig auftauchte, leugnete er zunächst alles. Als sie aber Sturmgewehre bei ihm fanden, packte er aus. Er identifizierte René als Käufer.

„Und wieso konnte dir dann der Banküberfall in die Schuhe geschoben werden, nur weil du einen Revolver gekauft hattest?“

Isabella ist für ihre 15 ziemlich schlau. René kennt sie seit fünf Jahren, seit er bei ihrer Familie auftauchte, weil er es in Italien nicht mehr aushielt. Nach seiner Entlassung hatte er unter Dauerbeobachtung gestanden.

„Eigentlich hätte ich nur wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt werden dürfen. Mein Alibi war gut. Ein paar Freunde bezeugten, dass ich mit ihnen auf Kneipentour gewesen war. Sie hielten sich mit ihren Aussagen konsequent an die Absprachen. Ich konnte demnach unmöglich am Tatort gewesen sein.“

„Und?“

„Plötzlich tauchte eine weitere Aussage auf. Der Waffenhändler behauptete, ich hätte ihm beim Kauf erzählt, dass ich einen Banküberfall plane. Das war es dann für mich.“

„Warum hast du ihm das denn erzählt?

„Habe ich natürlich nicht. Die Bullen haben ihn vermutlich zu der Lüge gedrängt.“

„Warum?“

„Damit ich verurteilt werde. Ganz einfach.“

„Aber es war doch gelogen …“

„Es geht bei politischen Prozessen nie um Wahrheit oder Gerechtigkeit.“

„Sondern?“

„Um Rache.“

„Und was ist mit dem Typ dann passiert?“

„Das erzähle ich dir das nächste Mal.“

Damit steht René auf und bezahlt. Isabella schlingt ihren Schal um ihren entzündeten Hals. Zusammen treten sie hinaus in die kühle Herbstluft. Er begleitet Isabella zum Bus Richtung Schelmengraben. Er selbst wohnt im Westend. Auf dem Heimweg denkt er an früher. Die Geschichte von dem Waffenhändler möchte er Isabella nicht gerne erzählen.

Die Genossen hatten Rache genommen. Sie fanden den Verräter trotz Zeugenschutzprogramm. Das falsche Klingelschild und die neuen Ausweispapiere nutzten ihm nichts. Jetzt prangte eine Tätowierung auf seiner Stirn: ein riesiges T für „Traditore“ – Verräter. Ein Stigma für die Ewigkeit.