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Das Tabu-Spiel im Marx-Museum

von Basti

„Ja was machen Sie denn, wenn Sie morgen aus ihrem Zuhause vertrieben werden? Das kann passieren. Die Russen drohen uns jeden Tag! Wenn alles nuklear verseucht ist, wo gehen Sie denn hin? Die meisten gehen in die USA. Das würde ich auch machen!“ Diese warmen Worte der Drohkulisse hörten wir nicht etwa beim Parteitag der Grünen oder einer NATO-Pressekonferenz, nein, das waren die Worte der Bildungsreferentin der Friedrich-Ebert-Stiftung, die uns am 17.12 durch das Karl-Marx-Museum in Trier führte. Die pfiffige Didaktikerin wollte dem Publikum auf diesem spitzfindigen Wege die Exil-Existenz und die Fluchtbedingungen des jungen Karl Marx so greifbar wie möglich vermitteln. Solch ein Paukenschlag zu Beginn ließ uns allen geradezu das Blut in den Adern gefrieren und die Stimme im Hals ersticken.

Aber eins nach dem anderen. Bei unserem Besuch in Trier lernten wir, dass das schöne 115.000-Einwohner-Städtchen an der Mosel, mit der prachtvollen und gut erhaltenen römischen Architektur (etwa die Porta Nigra) und dem Marx-Museum, ein wahres Bildungs-Mekka für Interessierte ist, die sich an das Marx-Studium heranwagen.

Am 05.05.1818 wurde Karl Marx als Sohn eines Juristen in dem barocken Wohnhaus geboren, welches die SPD 1928 gekauft hat und das seit 1968 unter Verwaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung steht. In dem dreistöckigen Geburtshaus von Karl Marx weht heute ein ganz besonderer Wind der Veränderung, von dem wir einen Hauch einatmen durften. Bereits in den ersten fünf Minuten unserer hochprofessionellen Führung, die geprägt waren von spannenden Suggestivfragen, wurde uns klar, dass wir es hier mit einer echten Kennerin ihres Fachs zu tun hatten, denn schon im ersten Raum fühlten wir uns wie unwissende Schulkinder, die ihr bisheriges Verständnis von Karl Marx gründlich überdenken müssen. Um eine hochkomplexe Persönlichkeit wie Karl Marx zu begreifen, mussten wir ganz vorne anfangen, mit einer Biografie-Nachhilfestunde. Um die ereignisreiche Biografie und die vielen Ortswechsel im Leben des Gesellschaftstheoretikers besser nachzuvollziehen, ist diesem Verlauf ein ganzer Raum gewidmet. Damit uns Besucher:innen die Gemütslage einer Existenz im Exil etwas greifbarer wurde, empfahl die ältere Dame, die uns manierlich durchs Haus führte, uns doch einfach selbst eine Flucht vorzustellen. Das dürfte nicht so schwer sein, meinte sie, schließlich seien wir heute von den Russen bedroht. Ja, täglich sogar drohen „die Russen“ uns Deutschen mit einem Atomschlag, durften wir lernen.

Nach diesem Schock schritten wir die Treppe hinauf in den ersten Stock, in dem uns allmählich die Spielregeln dieser wunderlichen Führung klar wurden. Wie bei dem beliebten Gesellschaftsspiel „Tabu“ war es der Spielleiterin verboten, gewisse Begriffe zu benutzen. Eine wirklich schwierige Aufgabe, die die Friedrich-Ebert-Stiftung hier ihren Partei-Bildungsreferent:innen aufträgt. Man stelle sich vor, das Wirken von Karl Marx ohne die Verwendung folgender Begriffe beschreiben zu müssen: Klasse, Kapital, Dialektik, Arbeit, Widerspruch, Produktionsmittel, Produktivkraft, Ausbeutung, Herrschaft, Revolution u.v.w.m. Doch unsere Kennerin vom Fach brillierte in ihrer Disziplin wie keine Zweite, erlaubte sich nicht einen kleinen Patzer, kein verwunschenes Wort verließ ihre Lippen. Um Missverständnisse auszuräumen, muss ich betonen, dass diese Führung trotz alledem ein wahres Füllhorn an neuer Erkenntnis und profunder Aufklärung war. So sind beispielsweise allen Teilnehmer:innen knifflige Begrifflichkeiten wie die beiden philosophischen Richtungen – Materialismus und Idealismus –, die uns alle in der Auseinandersetzung mit der marxistischen Philosophie so sehr gequält haben, nun völlig klar geworden. Der Materialismus ist alles vom Menschen Geschaffene und der Idealismus ist quasi Religion. Tja, so einfach ist das, wenn es ein Profi erklärt.

Unsere Referentin hatte sich aber in dieser didaktischen Königsdisziplin gerade erst aufgewärmt. Schlag auf Schlag, ohne die Nennung einen Tabu-Begriffs, lösten sich lawinenartig die findigen Details über das Leben von Karl Marx, der gerne eine Uhr getragen hat, als Teenager Liebeslieder sang, in einem Sessel rauchte und dessen Körpergröße viel geringer war als die des stattlichen, großgewachsenen, blonden und blauäugigen Friedrich Engels, dem eigentlichen Star der Ausstellung. Mit einer feinen Handschrift veröffentlichte dieser den zweiten und dritten Band des Kapitals, während die Veröffentlichung des ersten Bandes von Marx schon im Erscheinungsjahr völlig obsolet gewesen war und keine politökonomischen Erkenntnisse mehr beizutragen hatte. Einfach genial.

In der fortgeschrittenen fachlichen Tiefe fiel es uns phasenweise sehr schwer, der Expertise, den komplexen Ausführungen und den gebündelten Fachkenntnissen der Referentin zu folgen, denn ein gewisser Proudhon schien das Microfinancing bereits erfunden zu haben, welches die Analysen des ersten Bands des Kapitals unbrauchbar gemacht hatte. Wir stauen noch heute über all das messerscharfe Fachwissen.

Im zweiten Stock durften wir dann Zeugen werden, wie Wirrköpfe das Denken von Marx entfremdeten, um ihre Ein-Parteien-Diktaturen zu rechtfertigen. Geradezu scheußlich, was da aus dem Vermächtnis des ehrenwerten Marx gemacht wurde. Bevor sich die Marx-pertin im vorletzten Zimmer von uns verabschiedete, zeigte sie uns noch an flackernden Bildschirmen, die die unbegründeten Ängste und Sorgen der DDR-Bürger:innen symbolisierten, die 1990 endlich frei wurden, wie krisenfest die private Marktwirtschaft ist. Angst wovor auch, vor Milch und Honig?

Im letzten Zimmer durften wir, uns selbst überlassen, dann auch endlich, durch die Brille von Friedrich Ebert, ein Gespenst bestaunen, das herum geht im Hause Marx. Leider war es Gustav Noskes Gespenst des Totalitarismus, denn vom Gespenst des Kommunismus fehlt im Marx-Museum in Trier jede Spur.