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Antifa-Roman

10 | René II

Marlene schaut auf die Uhr.

„Oh, fast hätte ich meine Verabredung vergessen.“ Sie springt auf.

„Aha, haben wir ein geheimes Date?“, stichelt Vera lächelnd. Marlene streckt ihr die Zunge raus. „Das geht dich gar nichts an.“

„Also habe ich recht!“ Vera will sie ein wenig ärgern. Die Stimmung im Raum ist nach der Geschichte von Mîrhat etwas gedämpft.

„Nein, ich treffe meinen Bruder.“

„Netter Versuch.“ Vera lässt nicht locker. „Du hast gar keinen Bruder.“

„Stimmt. Aber René ist so was wie ein Bruder für mich.“

„Okay, das gilt. Viel Spaß.“

„Wir sehen uns um halb acht.“

Dann eilt sie zum Bus. Der Mittwoch ist seit Jahren eine feste Verabredung der beiden.

René hatte die erste Zeit in Wiesbaden bei Familie Todetto im Schelmengraben gewohnt. Fünf Menschen in einer Dreizimmerwohnung.

Doch nach dem Gefängnis war ihm das egal gewesen. Nach seiner Entlassung hatte René noch immer keine Ruhe vor der Polizei. Tägliche Kontrollen auf der Straße, Anrufe bei neuen Arbeitgebern und die ständige Überwachung gingen ihm auf die Nerven. Sein politischer Handlungsspielraum wurde extrem eingeschränkt. Keine Chance auf ein normales Leben. Also verließ er Mailand in Richtung Rhein-Main-Gebiet. Nach wenigen Wochen fand er eine eigene Wohnung im Wiesbadener Westend, in der Yorkstraße. Die deutsche Polizei observierte ihn am Anfang ein paar Wochen lang. Der italienische Geheimdienst hatte die Kollegen informiert. Als sich jedoch zeigte, dass René augenscheinlich neben seiner Arbeit als Pizzaausfahrer nur mit Marlene und ihrer Familie zu tun hatte, verschwanden die Schnüffler.

René liebte Marlene von Anfang an wie seine eigene Tochter. Seitdem sehen sie sich regelmäßig. Bis heute.

„Weißt du eigentlich“, fragt er sie, als sie bei ihm vor einer Tasse Espresso und einem Kakao sitzen, „dass ich nur dank dir so gut deutsch spreche?“

„Ich kann es mir denken. Weil wir immer geübt haben.“

Er lächelt.

„Aber wieso konntest du überhaupt schon was, als du kamst?“

„Im Knast hatte ich viel Zeit.“ Er nimmt sich ein Stück Pizza. „Da war es das Beste, eine Sprache zu lernen. So ging die Zeit schneller rum.“

„Wie alt war ich eigentlich, als du bei uns aufgetaucht bist?“

„Du warst zehn, und schon damals das hübscheste Mädchen außerhalb Italiens.“

Sie strahlt.

„Schon früher war ich immer deine Prinzessin.“

„Ja, vor allem eine sehr temperamentvolle.“

Es war eine schöne Zeit. Er hatte viel mit den beiden Schwestern unternommen, aber Marlene war immer die Nummer Eins. René lernte damals in einem Intensivkurs Deutsch. Mittags half er Marlene bei den Hausaufgaben, sie fragte ihn dafür Vokabeln ab. Nachmittags zogen sie manchmal zu zweit oder zu dritt durch die Stadt. René zahlte Eisbecher und Kino. Sie hatten viel Spaß.

In seinen eigenen vier Wänden hatte René für Marlene ein Zimmer eingerichtet. Manchmal übernachtete sie bei ihm. Sie durfte immer Freundinnen mitbringen. Sie hatten bei ihm mehr Freiheiten als in der engen Wohnung im Schelmengraben. René sprach schon nach einem Jahr fast fehlerfrei deutsch und absolvierte eine Ausbildung zum Netzwerktechniker. Heute arbeitet er als Systemadministrator mit gutem Gehalt für ein mittelständisches Unternehmen in der Mainzer Straße. An seine alten Ideale glaubt er noch immer.

Eine gerechte Welt und die Gleichheit der Menschen. Meine kämpferischste Zeit ist zwar vorbei. Aber wenn es notwendig sein sollte, bin ich wieder dabei!

„Fällt es dir nicht manchmal schwer, politisch nichts mehr zu machen?“

René horcht auf. Das hat ihn Marlene noch nie gefragt.

„Wie meinst du das?“

„Früher warst du doch mit deinen Genossen immer unterwegs, um Nazis zu verhauen. Du hast erzählt, dass ihr erfolgreich wart. Heute laufen wieder überall welche herum. Stört dich das nicht?“

„Na klar, das kotzt mich an!“

Er steht auf und stellt die Teller in die Spüle.

„Aber irgendwie fehlen mir die Leute. Es ist nicht mehr wie früher.“

Dabei ist René seine konspirativen Reflexe bis heute nicht losgeworden. Immer wieder ertappt er sich dabei, wie er die Umgebung nach möglichen Verfolgern abcheckt. Regelmäßig unternimmt er Gegenobservationen, um zu sehen, ob ihm jemand folgt. Wenn er Räume betritt, sucht er sie nach Auffälligkeiten ab, und ob sich irgendein Platz für einen Überfall auf ihn eignen würde. Nie sitzt er mit dem Rücken zum Raum, er muss immer den Überblick behalten und den Eingang beobachten können.

Als die Geheimdienste noch um ihn herumschwirrten, erkannte er sie immer schnell. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, langweilige Tagesabläufe mit unauffälligen Absetzmanövern von Überwachern zu vermischen. Bis heute übt er das. Manchmal kauft er sich ein Bahnticket, wartet am Bahnsteig auf den Zug, steigt aber nicht ein. Bleibt noch jemand am Bahnsteig zurück, wird er vermutlich observiert. Oder er läuft durch die Stadt und versteckt sich in einem Hauseingang um die Ecke. Wer dann suchend um die Ecke biegt, ist ebenso verdächtig. Es gibt ihm ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er Überwacher jederzeit abhängen könnte. Aber die allgegenwärtigen Kameras, die Internet- und Telefonüberwachung machen konspiratives Verhalten zunehmend komplizierter … Dazu kommen die Hochleistungsdrohnen.

„Ich glaube, wenn ich wieder Leute hätte, dann würde ich auch wieder aktiv werden“, sagt René.

„Und wenn sie jünger wären?“

„Wie viel jünger?“

„So wie ich.“

„Marlene, möchtest du mir vielleicht irgendetwas sagen?“

Sie zögert.

„Ist es heikel und geht nur mich an?“

„Irgendwie schon.“

„Dann leg dein Smartphone auf den Tisch und wir machen einen Spaziergang.“

„Warum?“

„Ein Smartphone ist Ortungsgerät, Wanze und Überwachungskamera in einem. Es ist besser, es öfter mal nicht dabei zu haben.“

Draußen ist es bereits kühl. Der Sommer hat deutlich an Kraft verloren. Doch weit laufen sie nicht. Im Westend-Café suchen sie sich einen Tisch in einer Ecke.

„Erinnerst du dich noch an unseren letzten Besuch in Mailand?“

„Das Familientreffen mit unseren Verwandten, selbstgemachte Pasta und Mehrgängemenüs?“

Sie nickt.

„Danach habe ich zwei Kilo mehr gewogen. Ich hatte den Eindruck, wir haben nur gefressen.“

René ist sportlich. Zwei Kilo mehr schaden ihm nicht. Regelmäßig unternimmt er Waldläufe und geht zum Boxtraining. Er ist klein, drahtig und seine Augen sind immer wach. Er scannt ständig seine Umgebung, merkt sich Gesichter und erkennt Auffälligkeiten.

In der Großfamilie ist seine Geschichte kein Geheimnis. Natürlich teilen nicht alle Familienmitglieder seine kommunistische Meinung, aber sie zollen ihm Respekt, weil er nicht verraten und nicht kollaboriert hat. „Handlungen zeichnen einen Menschen aus, nicht Worte!“, betonte Onkel Carlo immer wieder.

René hatte damals in Mailand alte Freunde besucht. Die meisten lebten „normal“: Beruf, Familie, Kinder. Trotzdem waren viele den früheren Idealen treu geblieben. Ein paar saßen noch im Knast, einige lagen auf dem Friedhof, eine Handvoll mischten noch in der linksradikalen Szene mit.

Marlene bestellt sich eine Bionade und René einen Espresso, wie immer.

„Also, meine Liebe, was ist los?“

„Ich habe mich heute mit unserem Direktor angelegt.“

„Und?“

„Wegen Nazis.“

„Was?“

„Bei uns an der Schule gibt es Nazis, glaube ich. Heute war alles vollgesprüht.“

„Verdammt. Weißt du, was das heißt?“

„Nein, nicht wirklich.“

„Nazis bedeuten immer Ärger. Wenn man nichts tut, muss man dabei zusehen, wie sich ihr Terror ausbreitet. Ihr Gift kriecht zwischen die Menschen, in Familien und Freundschaften. Nazis sind die Pest. Wird man gegen sie aktiv, steht man selbst mitten in der Auseinandersetzung. Mit Nazis kann man nicht friedlich leben.“

„Den Eindruck habe ich auch.“

Dann erzählt sie René die ganze Geschichte mit dem Direktor, dem ignoranten Lehrer Lemper und den Plänen für die Übermalaktion später am Abend.

„Klingt mutig“, sagt er. „Und nach guten Freunden.“

„Willst du uns nicht helfen?“

Er sieht sie eindringlich an.

„Nein, das wäre absurd. Ich könnte euer Vater sein.“

Er nippt an seinem Espresso.

„Ich war in Mailand auf so einem Antifatreffen, als wir unten waren,“ sagt er.

„Hast du mir gar nicht erzählt.“

„Ich hörte mir alles an und wusste: Diese Zeit ist für mich Geschichte. Das geht nicht mehr.“

„Warum?“

„Wir Alten ticken völlig anders als ihr jungen Leute. Über Vierzigjährige müssen andere Jobs machen als sich mit Neonazis prügeln.“

Dazu kommt: René hat keine Lust mehr über Widersprüche, Befindlichkeiten und Ängste zu reden. Aber das sagt er Marlene nicht. Er weiß, dass diese Diskussionen wichtig sind, aber eben nicht mehr für ihn selbst.

„Wer politisch denkt, muss auch politisch handeln. Eine Geisteshaltung, die keinen praktischen Ausdruck findet, ist unsinnig.“

„Das stimmt.“

„Ich weiß nur nicht, wie ich das Problem lösen soll.“

„Du kannst uns ja heimlich unterstützen.“

„Das ist eine tolle Idee“, antwortet er. „Vielleicht sollte ich heute mal in der weiten Umgebung deiner Schule einen Spaziergang machen. Nur mal so.“

Sie strahlt. „Da werden sich die anderen freuen.“

„Nein, du wirst ihnen kein Wort von mir erzählen.“

„Die wissen aber von dir, als mein Fast-Bruder.“

„Ja, aber mehr eben auch nicht. Lassen wir es dabei. Zu viel zu wissen, ist oft ein Nachteil. Glaub‘ mir.“

„Du bist der Experte, ich die Anfängerin.“

Er lacht. „Aber ich bin nachher da, keine Sorge.“

Zu diesem Zeitpunkt ahnen die beiden noch nicht, dass René noch viel aktiver für sie werden wird.