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Antifa-Roman

14 | Der Tag danach

Als Marc an diesem Freitagmorgen erwacht, liegt Vera auf seiner Brust und schläft. Er streichelt ihr liebevoll übers Haar und ist glücklich.

Vera blinzelt.

„Der Wecker hat doch noch gar nicht geklingelt“, flüstert sie schlaftrunken.

„Nein, noch nicht. Aber gleich. Ich mache Kakao und bringe dir eine Tasse.“

„Ich will lieber Kaffee. Du findest alles im Hängeschrank“, sagt Vera und rollt sich noch einmal zur Seite.

Er steigt aus dem Bett und läuft in die Küche. Fremde Küchen sind grässlich, denkt er. Wie fremde Werkstätten. Man findet nichts. Er durchsucht die Schränke nach Kaffeepulver.

Bald gluckern die ersten Kaffeetropfen durch die Maschine und verbreiten den herrlichen Duft eines wunderbaren Morgens. Die Sonnenstrahlen scheinen auf dem Holztisch, sie rufen die Erinnerungen an die vergangenen Stunden in Marc wach. Selig träumt er vor sich hin.

Plötzlich öffnete sich die Küchentür. Annette tritt ein.

Marc steht da wie versteinert.

„Hallo Marc, schön dich zu sehen.“

Er fühlt sich wie ein chinesischer Terrakottasoldat in Unterhosen. Stocksteif bringt er kein Wort heraus.

„Wirst du uns jetzt öfters morgens Kaffee machen?“, fragt Veras Mutter verschlafen und blinzelt ihn verschmitzt an.

„Du bist da?“, stottert Marc.

„Sieht so aus.“

Ein Soldat in Unterwäsche ist würdelos und erniedrigend. Möge der Boden sich öffnen und mich verschlucken, denkt Marc. Doch Annette scheint seine halbnackte Erscheinung völlig egal zu sein. Sie spricht unbeirrt weiter.

„Mein Freund und ich haben uns gestern gestritten. Und da war ich doch lieber hier allein. Schläft Vera denn noch?“

„Ja. Äh, nein. Ich werde ihr jetzt Kaffee bringen.“ Marc fühlt sich hundeelend. So als hätte man ihn dabei erwischt, wie er auf dem Fußballplatz an die Eckfahne pinkelt – während eines live übertragenen Champions-League-Spiels.

„Vera trinkt Kaffee übrigens nur mit Milch.“

„Ich auch!“ Marc ist stolz, einen kompletten Satz fehlerfrei und ohne zu stottern gesprochen zu haben. Dabei trinkt er eigentlich nie Kaffee.

„Schenk mir bitte auch eine Tasse ein, ohne alles. Tiefschwarz schmeckt er mir am besten.“

Er holt eine dritte Tasse aus dem Schrank und gießt sie vorsichtig ein.

Jetzt bloß nicht kleckern.

„So, bitte schön“, sagt er. Ein zugegebenermaßen kurzer Satz, aber formal betrachtet wieder völlig korrekt.

Ich will doch nur zu Vera ins Bett. Kuscheln, Kaffee trinken, wach werden. Und sonst gar nichts!

Er schaut Annette erwartungsvoll an.

Ich stehe hier völlig hilflos in einer fremden Küche. Mit meiner Boxershorts bin ich nicht wirklich so gekleidet, wie es sich in einer fremden Wohnung gegenüber einer anderen Person, einer Mutter gar, gehört. Ich stehe hier wie ein begossener Pudel mit einer Tasse Kaffee in der Hand. WTF?

Annette sieht ihn nur an. Verzweifelt sagt er: „Da!“ Seine technischen Ansprüche an deutschen Satzbau hat er damit auf null heruntergeschraubt. Trotzdem ist er einigermaßen zufrieden mit dieser verbalen Leistung. Dabei würde selbst ein chinesischer Terrakottasoldat mit abgebrochener Zunge diese drei Buchstaben holperfrei aussprechen können – Satzzeichen inklusive.

Er streckt ihr die Tasse hin.

Dann sieht er es. In der Hand hält er einen Steingutbecher mit dem Schriftzug „Apfelwein von Possmann“.

Marc wird rot. Annette lacht.

„Ist doch egal, was drauf steht, Hauptsache es ist Kaffee drin.“

Sie nimmt Marc den Becher aus der Hand. „Ich danke dir.“

Damit dreht sie sich um und geht barfuß aus der Küche.

Marc bleibt irritiert in der Küche zurück. Na, die Morgenbegegnungen können ja heiter werden, denkt er und balanciert die beiden Tassen in Veras Zimmer. Er weckt sie mit einem Küsschen. Im selben Moment surrt der Wecker. Sie schlägt auf die Stopp-Taste und zieht Marc zu sich ins Bett. Nur mit Mühe verhindert er zwei riesige Kaffeeflecken auf dem Laken.

Nebeneinandersitzend nippen sie an ihren Tassen.

„Ich hab‘ mich wirklich richtig in dich verliebt, Vera!“, flüstert Marc und greift nach ihrer Hand.

„Ich mich auch. So gut wie heute Morgen hab‘ ich mich noch nie gefühlt.“

Sie küssen sich erneut.

Dann stehen sie auf.

Die Wandfarbe der Malaktion haben am Abend Waschmaschine und Trockner noch ganz gut aus den Klamotten herausbekommen. Nur Marcs Schuhe sind nicht perfekt sauber.

Stefan steigt aus dem hauseigenen Schwimmbad. Es ist noch niemand sonst wach. Sein Vater ist unterwegs, seine Mutter schläft noch. Er liebt Sport. Durch das regelmäßige Kung-Fu-Training ist er schnell und kräftig, seine Ausdauer ist ebenfalls sehr gut. Beim Kämpfen ist Kondition wichtig, deshalb zieht er regelmäßig seine Bahnen im Pool. Zur Schule fährt er fast immer mit dem Rad. Die Villa seiner Eltern steht „Am Mühlberg“ in Wiesbaden, umgeben von einem nicht einsehbaren Garten. Wenn er allein zuhause ist, übt er auf dem Rasen mit verbotenen Waffen wie Wurfsternen, Nunchaku oder Butterflymessern. Bisher hat er nie darüber nachgedacht, diese Waffen jemals gegen Menschen einzusetzen. Er liebt einfach den Umgang damit. Schon als kleiner Junge schaute er Ninja-Filme und Bruce Lee war sein Vorbild. Doch heute Morgen hat er keine Zeit mehr für weitere Übungen. Er muss in die Schule und möchte nicht zu spät kommen. Immerhin muss er ein Auge auf Petra haben, nicht dass sie plötzlich eine Panikattacke bekommt.

Celeste hat Angst, wenn sie an Bushaltestellen ankommt. Auch jetzt auf dem Schulweg, wenn der Bus vollgestopft ist mit Schülern. Immer schaut sie nach rechts und links. Sie hält nach Männern Ausschau, die so aussehen wie die in der Verhandlung. Eigentlich sucht sie ständig nach einem Nazi mit einer Tätowierung auf der Wade.

An einer Bushaltestelle haben sie ihn umgebracht. Totgetreten. Das hier ist eine Bushaltestelle. Eine von vielen. Es hätte auch hier sein können. Die Nazis haben meinen Papa wegen seiner Hautfarbe ermordet. Nazis töten Menschen wegen ihres Aussehens. Ich sehe wie Papa aus. Das hier ist eine Bushaltestelle. Ich habe Angst. Aber es sind keine Nazis zu sehen.

Celeste wird oft von Menschen wegen ihrer Hautfarbe angesprochen. Das ist sie gewöhnt. Manchmal drängeln alte Omis sie an der Kasse weg oder Unbekannte pöbeln sie im Bus an. Das passiert selten. Aber es passiert. Und es wirkt nach. Angst ist ihr ewiger Begleiter. Sie hat mit ihrer Cousine darüber gesprochen. Ihr geht es genauso.

„Hier sind wir immer allein“, hatte Adjoa gesagt. „Papa Kwame war der einzige Erwachsene. Der war immer für uns da. Aber er ist tot. Es gibt nur noch uns“. Dann hatte die Cousine angefangen zu weinen.

„Aber es gibt doch die Frau vom Jugendamt, Geta.“, hatte Celeste geantwortet. „Sie ist sehr bemüht. Eine tolle Frau.“

„Aber total überlastet. Wir sind ja nicht ihre einzigen Schützlinge.“

Ein paar von den für uns Verantwortlichen sind wirklich in Ordnung. Aber im Alltag sind wir allein. Selbst in der Schule wurde ich schon von den Typen an den Bänken angemacht. Doch dann haben sich eigentlich immer Mitschüler eingemischt und zu mir gehalten. Viele Mitschüler sind meine Freunde. Doch dann waren da plötzlich die Parolen. Damit sind die Nazis an der Schule aufgetaucht. Dem einzigen Ort, wo ich mich sicher fühlte. Jetzt habe ich auch dort Angst.

Sie sind alle pünktlich am Haupttor: Petra, Elena, Stefan und Marlene. Elena grinst, als Vera und Marc zusammen ankommen: „Sieh an, unser neues Paar.“

Die beiden strahlen. Marc errötet.

„Allerdings!“, gibt Vera lächelnd zur Antwort. Ein leichtes Rot glüht auch auf ihren Wangen.

Petra raucht schon wieder. Stefan ist wie gewohnt sachlich: „Erinnert euch an unsere Abmachung: Wir geben nichts zu und machen keine Andeutungen, dass wir etwas mit dem Übermalen zu tun haben. Nur die Tat an sich rechtfertigen wir. Das geht auch, ohne dass wir uns dazu bekennen. Wir müssen ja der zu erwartenden Ermittlungsarbeit keinen Vorschub leisten.“

„Ermittlungen?“ Petra fällt fast die Kippe aus dem Mund. „Was für Ermittlungen?“ Sie redet sehr laut, schreit fast.

„Schnauze Petra“, herrscht Marlene sie an, „das hört doch jeder!“

„Was denn für Ermittlungen?“ Panik schwingt in Petras mühsam kontrollierten Worten. Sie ringt um Fassung.

„Petra, du nervst“, sagt Vera wütend. „Das hatten wir doch gestern schon besprochen.“

„Keiner hat was von Ermittlungen gesagt. Meint ihr, die Polizei kommt?“

„Petra, bist du wirklich so naiv?“ Marc schaut ihr in die Augen. „Natürlich kommt die Polizei.“

Stefan nimmt sie in den Arm. „Keine Angst. Merk Dir einfach: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“

„So haben wir es ja gestern auch ausgemacht“, erinnert sie Marc.

„Das ist mir scheißegal“, schreit sie. „Gleich kommen die Bullen.“

Marlene tritt auf sie zu. „Halt jetzt endlich die Klappe, sonst klebe ich dir eine.“

„Hey, mach mal halblang“, geht Marc dazwischen.

„Marlene hat doch recht!“, sagte Vera. „Petra hat sie doch nicht mehr alle.“

Sie schaut Petra wütend an.

„Wenn du noch einmal schreist, flippe ich auch aus!“

Petra zieht verdattert an ihrer Kippe.

„Ja ja, ist ja gut.“

Sie senkt den Kopf. „Tut mir leid!“

„Ich bleibe am besten mal bei dir“, sagt Stefan. „Für alle Fälle.“

„Danke“, flüstert Petra, macht die Zigarette aus und wirft sie in den Mülleimer.

Die kleine Gruppe läuft über den Schulhof. Die sechs beobachten die Rechten aus den Augenwinkeln. Diese wirken auffällig schweigsam, aber ihre Augen verfolgen jeden Schritt. Niemand sagt ein Wort, die beiden Gruppen beobachten sich still. Es scheint, als zögerten die anderen noch, den ersten Schritt zu tun: kein Ruf, kein Pöbeln, kein Spruch. Die Rechten scheinen sich nicht sicher zu sein, ob die sechs mit der Übermalaktion zu tun haben oder nicht. Umgekehrt wissen die ja auch nicht hundertprozentig genau, wer die Naziparolen gesprüht hat.

Irgendwie ein Patt, denkt Marc. Er betrachtet unauffällig die stumme Gruppe, und versucht, ihr Verhalten zu lesen.

Wir umkreisen uns wie Tiger. Doch die Spannung ist fühlbar. Es muss etwas passieren. Und es wird etwas passieren. Die wissen das, wir wissen das. Wer den nächsten Schritt tut, ist der Angreifer.

Marc denkt sachlich und logisch. Meist wirkt er sehr emotionslos. Man sieht ihm selten an, was in seinem Inneren passiert.

Die sind im Vorteil. Die sind mehr. Wir sind sechs. Keine Bedrohung für sie. Für uns kann das richtig gefährlich werden …

In Gedanken versunken verschwindet Marc mit den anderen im Schulgebäude.

Hausmeister Weitzel ist nach dem Eintreffen von Direktor Millner sofort im Büro vorstellig geworden. Der Bückling spricht laut und mit hochrotem Gesicht.

„Es scheint ja hier in Mode zu kommen, meine Arbeit zu übernehmen“, keift er. „Jetzt greifen die Gören schon zur Selbstjustiz. Kann da jetzt jeder kommen und an unserer Schule herumsauen? Ich werde mit ihrer Erlaubnis die Polizei informieren.“

Der hat mir gerade noch gefehlt, denkt Millner. So früh am Morgen schon dieser nervige Graukittel. Zu doof, um eine Frau zu finden, aber hier lauthals rumnölen.

„Gar niemand wird informiert. Ich will nichts mehr von den Schmierereien an meinen Wänden hören. Das waren diese Schüler aus der 10a, Vera, Marlene und Konsorten. Die haben mir gestern den letzten Nerv geraubt. Streichen Sie die Wände ordentlich, und zwar in den nächsten Tagen. Kein Wort mehr zu der Sache.“

Millner will seine Ruhe. Es gibt anderes zu regeln, als sich mit Schulwänden und deren Bemalung herumzuärgern.

„Eine Frage noch, Herr Direktor“, brummt der Hausmeister. Er hat einen Instinkt dafür, wann er lang gehegte Wünsche erfüllt bekommen kann. Jetzt fühlt er so einen Moment.

„Ich habe kaum Zeit für das Streichen der Wände. Können das nicht einfach ein paar Schüler übernehmen?“

Millner rollt die Augen. Weitzel stinkt nach Zigaretten und altem Schweiß. Mechanisch steht der Direktor auf und öffnet die Fenster.

Kann dieser Vollpfosten nicht einfach verschwinden und aufhören, mir auf den Wecker zu gehen?!

„Herr Weitzel, das Thema ist hiermit ausdiskutiert. Schnappen Sie sich zwei Hilfswillige, geben sie ihnen 10 Euro die Stunde, und drücken sie ihnen Pinsel und Farbe in die Hand. Heute Abend will ich die Wand wieder so haben, wie sie vorgestern war! Verstanden? Einfach eine einfarbige Wand. Sonst nichts!“

„12 Euro.“

„Was?“

„Äh, der Mindestlohn. Alle müssen jetzt 12 Euro zahlen. Das ist ein neues Gesetz. Total unfair, weil …“

„Stopp! Aufhören! Zahlen Sie den Mindestlohn und damit basta. Auf Wiedersehen!“

Weitzel nickt und macht sich eilig davon. Wenn die Laune des Chefs kippt, muss man schnell abhauen. Weitzel ist ein ganz Bauernschlauer. Er weiß, wann man besser verschwindet. Dabei ist ihm gerade etwas gelungen, wovon er seit Jahren träumt: die Anstellung von zwei Aushilfen.

Endlich muss ich nicht mehr jede Drecksarbeit allein machen. Aushilfen bedeuten, dass ich Chef bin und herumkommandieren kann. Die blöden Türkinnen von der Putzkolonne tun ja immer so, als ob sie kein Wort verstehen, die blöden Weiber. Und mit den zwei Aushilfen habe ich auch immer jemanden, der Schuld ist.

Weitzel reibt sich golumartig die schmutzigen Hände.

Und ich weiß auch schon, wen ich einstelle. Alfred und Bernd. Die kenne ich nämlich von außerhalb der Schule. Die sind okay. Und Peter Müller wird sich bestimmt auch freuen. Vielleicht gibt es dann auch mal was nebenbei extra.

Umgehend läuft er zu der Gruppe der Rechten und spricht mit den beiden. Alfred Kromme und Bernd Habelmann sind sofort einverstanden.

Die Englisch-Doppelstunde ist langweilig wie immer. Nur Stefan und Marlene unterhalten sich angeregt über die grammatikalischen Unterschiede des Plusquamperfekts im Italienischen und im Englischen. Seit Stefan an der Volkshochschule einen Italienisch-Kurs besucht, führt er mit Marlene sogar kurze Unterhaltungen. Nebenbei wird er nicht müde zu betonen, dass Sprachen wahrscheinlich das einzig Sinnvolle sind, was sie an der Schule lernen.

Als die sechs später zusammen aus dem Schulhaus treten, bleiben ihnen die Münder offen stehen. Alfred und Bernd streichen die Wände, wo gestern noch die Naziparolen prangten. Sie kennen die beiden Jungs nicht genauer, nur ihre Namen, und wissen, dass sie zur rechten Gruppe auf dem Schulhof gehören. Die beiden tragen ordentliche Arbeitskittel und grinsen sie frech an.

„Wir müssen wenigstens nicht nachts arbeiten“, rufen sie. „Und wir werden dafür auch noch bezahlt.“

Der Rest der steht nicht weit entfernt. „Für eure Aktion werdet ihr noch büßen“, ruft einer den sechs zu.

Das Eis ist gebrochen, denkt Marc. Es geht los. Die Eskalation beginnt. Shit! Darauf sind wir noch nicht vorbereitet. Jetzt ruhig bleiben. Nicht provozieren lassen. Wir können nicht gewinnen.

Doch es ist zu spät.

„Haltet euer Maul, Nazischweine!“, brüllt Stefan.

Es geht los!

„Du rothaariger Langhaardackel, mit deiner undeutschen Urwaldhure, wirst dich noch umgucken, wenn wir mal loslegen.“

„Eure Multikultischeiße werden wir verhindern.“

„Deutschland wird wieder deutsch!“

„Und denkt an den Neger, den es an der Bushaltestelle erwischt hat. Das wird euch auch blühen. Wir kriegen euch!“

Die Rechten brüllen durcheinander. Sie sind solche Attacken aus dem Stadion gewöhnt.

Den sechs bleibt die Spucke weg. Damit haben sie nicht gerechnet.

Stefan kocht. Er läuft angriffslustig auf sie zu. Sofort bilden sie einen Halbkreis. So erwarten sie Angreifer. Es ist eine kluge Taktik. Wenn mehrere Gegner in dieser Formation gegen einen antreten, hat dieser keine Chance. Er verliert die Übersicht und hat immer einen Gegner im Rücken. Die Rechten sind vielleicht nicht die Hellsten in der Schule, aber im Straßenkampf schon erfahren. Sie prügeln sich gerne und regelmäßig. Jedes Wochenende haben sie praktisches Training gegen andere Fußballfans.

„Ja, komm her, du linke Ratte, wir machen das gleich hier aus.“

Nazi-Chef Peter Müller steht hinter seinen Leuten. Er ist ganz ruhig: „Los zeig uns, was du unter Meinungsfreiheit verstehst, wie du dir eine demokratische Auseinandersetzung vorstellst. Dir passt unsere Gesinnung nicht? Dann greif uns an, Supermann!“

Stefan sieht ihm wütend in die Augen. Langsam läuft er weiter auf die Gruppe zu. Wenn er einmal auf 180 ist, hat er sich nicht mehr unter Kontrolle. Marc weiß das, er kennt seinen besten Freund.

Dabei verletzt Stefan eine Grundregel für Kämpfer: Lass dich niemals reizen. Wenn du die Beherrschung verlierst, verlierst du den Überblick – und damit den Kampf!

Doch Stefan ist dafür nicht mehr zugänglich. Er geht weiter. Die Rechten tänzeln in ihrer Halbkreisaufstellung gespannt hin und her. Ihre Oberkörper sind leicht nach vorne gebeugt. Stefan ist leichte Beute. Das wissen sie.

Elena läuft Stefan hinterher. Sie packt seinen linken Arm.

„Lass dich nicht provozieren Stefan, sie sind viel zu viele, die wollen doch nur, dass du sie angreifst.“

Er dreht sich nicht einmal nach Elena um, schüttelt sie ab und läuft weiter.

„Puttputtputt, komm schon her Stinkezecke. Komm zu uns und hol dir eine ab, Schwanzlutscher!“

Elena versucht erneut, ihn zu packen.

„Stefan, bitte.“

„Ich weiß, was ich tue“, raunt er ihr zu.

Die Rechten stehen jetzt nur noch zehn Meter von ihm entfernt, in freudiger Erwartung des ungleichen Kampfs.

„Nein Stefan, das weißt du nicht.“

Energisch stellt sich Marlene in seinen Weg.

„Es reicht Stefan, lass die Schwachköpfe!“

„Marlene, hau ab!“

„Zwölf schaffst du nicht“, entgegnet Marlene unbeirrt und bleibt vor ihm stehen. Sie ist jetzt die italienische Mama aus den Klischeefilmen, die mit in die Hüften gestemmten Armen den Hauptmafioso in die Flucht schlägt. „Lass es!“

Stefan hat letztes Jahr einige Kung-Fu-Regionalwettkämpfe gewonnen. Er ist gut, aber Marlenes Einwand ist zweifellos richtig. Ein Wettkampf ist keine Straßenschlägerei. Und die Rechten sind darin geübt. Draußen gibt es keine Regeln und keinen Ringrichter. Niemand weiß, welche Waffen sie unter der Jacke tragen. Außerdem sind mehr als ein Dutzend Gegner auch für einen sehr guten Kampfsportler zu viel.

Marlene steht wie ein Fels. Stefan stoppt vor ihr.

„Na, die Hosen voll? Keine Lust auf einen Meinungsaustausch?“, höhnt Peter Müller. „Fehlen dir die Argumente? Oder hast du einfach Angst?“

Die anderen grölen. „Komm ruhig her, und bring die Negernutte mit, damit wir ihr mal zeigen, was deutsche Männer drauf haben.“

Stefan tritt vor Marlene zur Seite und verschränkt die Arme. Plötzlich ist er völlig ruhig, schaut von einem zum anderen.

Totenstille.

„Wenn ihr Männer seid, dann schickt einen in den Ring!“, sagt er. „Einen. Mann gegen Mann.“

„Einer für alle, alle für einen! So läuft das bei uns“, rufen sie zurück.

Dabei machen sie Wichsbewegungen mit Blick auf Marlene.

„Unter echten Männern läuft es Mann gegen Mann, ihr Versager!“

Er wartet noch einen Moment. „Viele gegen einen, das ist was für Feiglinge!“

Dann legt er seinen Arm um Marlenes Schultern.

„Komm wir gehen. Das hier ist unwürdig.“

Unter Schmährufen laufen sie zurück zu den anderen.

Stefan dreht sich noch einmal um. „Ihr Nazis seid einfach feiges Dreckspack, nur in der Gruppe stark. Ihr habt keine Ehre und keine Eier.“

Dann geht er mit Marlene zu den anderen.

„Gut, dass du es nicht hast drauf ankommen lassen“, sagt Marc. „Das wäre einfach nicht gut gegangen.“

Stefan funkelt ihn an.

„Klar, wenn man hier rumsitzt und Däumchen dreht, wird alles besser. Du hättest ja mitkommen können“, fährt er seinen Freund an. „Aber du Weichei hast ja lieber die Mädchen vorgeschickt.“

„Was?“ Marc ist völlig perplex.

„Aber die schnappe ich mir noch. Einzeln. Verlass dich drauf! Egal ob du mitmachst oder nicht!“

Stefan ist sauer und von seinem Freund enttäuscht.

Bevor Marc sich wehren kann, tritt Vera dazwischen. Sie packt Stefan am Arm.

„Damit eins klar ist, ich habe Marc zurückgehalten. Er wollte zu dir. Er hat keine Däumchen gedreht! Und er ist kein Weichei!“

Stefan schaut erst sie fragend an, dann Marc.

„Ehrlich?“

Marc nickt.

„Dann tut mir mein Vorwurf leid!“

„Schon okay.“

Stefan wendet sich an Elena und Marlene.

„Danke“, flüstert er. „Zwölf sind in der Tat zu viel.“

Stefan senkt beschämt den Kopf. Elena legt ihren Arm um ihn. Er legt seinen Kopf an ihre Schulter. Seine Augen werden feucht.

„Die hätten mich plattgehauen. Danke, dass ihr mich zurückgehalten habt. Ihr seid echte Freunde!“

Gemeinsam ziehen die sechs Schüler ab. Die Rechten brüllen hinter ihnen her. Es steht 2:1.