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Antifa-Roman

22 | Der Aufruf

Als sie am Nachmittag wieder zusammenkommen, übernimmt Marlene an Barzels‘ PC das Kommando. Marc ist nicht dabei. Er ist in der Stadt, um sich neue Schuhe zu kaufen. Annette hat ihm Geld geliehen. Die anderen diktieren Marlene den Flugblatttext. Sie tippt ziemlich flüssig. Ihr Schulpraktikum hat sie in einem Anwaltsbüro gemacht.

„Ihr diktiert mir viel zu schnell. So flink kann ich nun doch nicht schreiben,“ nörgelt sie.

„Dann lass mich ran, ich tippe schneller.“ Elena schiebt die maulende Marlene vom Stuhl und hämmert auf die Tastatur ein, als sei sie gelernte Chefsekretärin. „Tja, wenn man in den Ferien arbeiten muss, um sich was dazuzuverdienen, dann lernt man auch allerhand. Ich habe immer im Büro meines Onkels ausgeholfen. Deshalb kann ich das.“

Sie diskutieren einzelne Sätze mehrfach, feilen an Formulierungen und streiten sich. Meist ist es Elena, die irgendwann den getippten Satz vorliest und somit Unklarheiten beseitigt. Nach zwei Stunden ist der Text fertig.

Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler!

Gestern verteilte eine Nazi-Vereinigung namens „Freie Kameradschaft Rhein-Main“ ein rassistisches Flugblatt an unserer Schule. Sie schrieben allerlei Quatsch, u. a. fordern sie „Ausländer raus!“. Damit beleidigen sie unsere ausländischen Freund:innen und Mitbürger:innen, mit denen wir schon lange zusammen leben und lernen. Die Verfasser zeigen offene Sympathie für einen totalitären Staat. Sie wollen die Demokratie abschaffen, eigene Gedanken verbieten, und bedrohen Menschen mit anderen Meinungen.

Wir wollen in einem solchen Land nicht leben, wie sie es sich vorstellen!

Alle, die ebenfalls hier keine Diktatur wollen, fordern wir auf, zu der Versammlung am Mittwoch um 17:00 Uhr in den Veranstaltungsraum R317 zu kommen. Wir wollen überlegen, was wir gegen diese und andere Nazis tun können. Es handelt sich um eine Schulversammlung, an der nur Schüler:innen unserer Schule teilnehmen können.

Am nächsten Morgen steht die Sechserbande an drei Schultoren und verteilt das Flugblatt. Viele Lehrer und Schüler schauen sie zwar komisch an, aber fast alle nehmen eines. Manche reagieren sehr positiv und wollen gleich mehrere zum Weitergeben. Andere helfen beim Verteilen. Am Ende sind es 20 Schüler, die fleißig die DIN-A5-Zettel unter die Leute bringen. Andere machen Fotos davon und teilen sie über Instagram oder WhatsApp.

An dem Tor, in dessen Nähe sich die Rechten meist aufhalten, haben sich Stefan und Marc postiert. Sie rechnen mit einer Provokation oder einem Angriff. Aber es passiert nichts.

„Wenn die das lesen, dann überlegen die sich was, da wette ich mit dir“, sagt Stefan.

„Das kann gut sein, aber sicher nicht hier an der Schule, sondern außerhalb“, antwortet Marc, und drückt einem Mädchen ein Flugblatt in die Hand.

„Ich bin vorbereitet! So was wie neulich passiert mir nicht noch mal!“

Marc sieht Stefan fragend an, sagt aber nichts. Er ist sich aber sicher, dass sein Freund etwas im Schilde führt. Als sie das letzte Blatt verteilt haben, gehen sie zum Unterricht. Auf ihrem Stundenplan steht schon wieder Lemper. Sie treten durch die Tür. Vera ruft ihnen quer durch den Klassenraum entgegen: „Wenn der Arsch heute über unser Flugblatt reden will, dann drehe ich durch.“

„Keine Sorge, junge Frau“, antwortete eine Männerstimme hinter Stefan und Marc. „Ich werde niemals Flugblätter von irgendwelchen Extremisten besprechen. Und schon gar nicht eins von Ihnen! Und Danke für die Info, junges Fräulein, dass es sich um IHRE Flugschrift handelt!“

Vera blickt verstört zur Tür. Eine leichte Röte durchzieht ihr Gesicht. Der Teint gibt ihr ein frisches Antlitz. Marc hätte sie küssen können. Gleichzeitig denkt er: 1:0 für den Vollpenner. Danke Vera. Jetzt wissen alle Bescheid.

Verlegen setzt Vera sich hin. Stefan, Marlene, Petra und Elena schauen sie sauer an. Marc würde am liebsten aufspringen und seine Vera in den Arm nehmen.

Lemper legt das Flugblatt der „Kameradschaft“ und das der Schüler vor sich auf den Tisch.

„Extremisten wie sie, Fräulein Swanka, zerstören die Demokratie. Das war schon in der Weimarer Republik so, wie sie wohl wissen.“

Elena ist zwar wütend auf Vera, aber sie springt ihrer Freundin trotzdem sofort zur Seite: „Bitte erklären Sie uns doch, wo in dem heute verteilten Flugblatt ein extremer Gedanke vertreten wird. Ich kann den gar nicht finden.“

Lemper sieht sie an und blickt auf das Flugblatt. Kurz flackert Unsicherheit in seinem Blick. Doch sie verfliegt schnell. Er steht auf. „Die Rechten und die Linken bekämpfen sich schon immer bis aufs Blut. Dabei sind beide gewalttätig und diktatorisch. Kommunismus ist gleich Nazismus.“

Schwadronierend läuft er vor der Tafel auf und ab.

„Es sind diese Extremisten von rechts oder links. In der Mitte sitzen unsere Parteien, die wir wählen können und die demokratisch sind. Die anderen sind extrem, also undemokratisch. Beide, ob rechts- oder linksaußen.“

„Links die Kommunisten und rechts die Nazis, alles dasselbe“, ergänzt eine Schülerin.

„Genau“, antwortet Lemper. „Die weichen von der Mitte ab, deshalb nennt man sie extremistisch.“

Er schaut in die Runde.

„Aber im Grunde sind sie gleich. Sie sind diktatorisch, undemokratisch und unmenschlich. Wie bei einem Hufeisen treffen sie sich letztendlich. Das nennt man Hufeisen- oder Extremismustheorie.“

„In den letzten 20 Jahren haben Neonazis fast 200 Menschen ermordet“, sagt Petra. „Von den Linken ist mir kein Mord bekannt. Das kann doch nicht dasselbe sein.“

„Das sind doch nur Details“, erklärt Lemper. „Es geht um das Prinzip. Darum geht es der Extremismustheorie.“

„Es ist ein Detail, ob 200 Menschen ermordet werden oder nicht?“, Petra kann es kaum glauben.

Vera hat sich wieder gefangen: „Die Nazis wollen eine Diktatur und keine freie Meinung zulassen, die Linken sind gegen den Kapitalismus und für die Herrschaft des Volkes.“ So hat es ihr ihre Mutter einmal erklärt.

„Das sind doch nur deren Behauptungen. Es ist im Kern egal, was diese Extremisten wollen, die sind doch alle gleich“, sagt Lemper. „Sie sind alle gegen die Demokratie.“

„Und wo gehört die AfD hin?“, ruft einer.

„In Sachsen sind die langsam in der Mitte angekommen, durch den großen Wähleranteil von rund 20 Prozent“, erklärt Lemper.

„Was? Dann ist die politische Mitte also nicht absolut? Sondern ein Spiegel der Wahlergebnisse?“, ruft Petra, messerscharf analysierend, dazwischen. Und bevor Lemper antworten kann: „Demnach war die NSDAP also auch eine demokratische Partei der Mitte. Bei der Wahl 1933 bekamen die nämlich über 40 Prozent!“

Petra funkelt Lemper an. Ihre Fakten stimmen. Lemper ist hilflos.

Elena meldet sich zu Wort. „Sie haben noch nicht auf meine Frage geantwortet. Wo befindet sich in dem Flugblatt von heute ein extremer Gedanke?“

Lemper ist genervt. Er stützt seine Arme aufs Pult.

Er wirkt wie ein angreifender Bullterrier, denkt Marc, allerdings eher in der Welpenversion. Er lächelt in sich hinein.

„Das steht natürlich nicht offen drin. Aber das meinen die, die das Flugblatt geschrieben haben. Sie wollen sich versammeln, demokratisch, sagen sie. Doch dahinter stehen organisierte Parteien und Gruppen. Und so Leute wie der Barzel. Der ist ja auch in der Gewerkschaft und so. Und dahinter stecken immer Kommunisten. Wer sonst soll sich gegen die Nazis versammeln wollen?“

„Na wir“, sagt Vera. „Habe ich doch vorhin schon gesagt. Und hinter mir steht gar nichts. Nur ich, die was gegen Nazis hat.“

Zustimmendes Gemurmel von den Schülern.

Marc hört nicht zu. Lemper bleibt ein Bullterrierwelpe. Ihm fehlt nur der Sabber am Maul. Und der wedelnde Schwanz.

Er grinst übers ganze Gesicht. Lemper schaut ihn entgeistert an. Wieso lacht der Typ? Das hier ist doch ganz und gar nicht lustig! Oder lacht der etwa über mich?

„Ich will mich auch gegen Nazis versammeln“, sagt Marlene. „Jetzt bin ich also eine Extremistin und Kommunistin?“

Lemper stiert sie stumpf an. Trotzdem lässt er sich nicht mehr ins Bockshorn jagen.

„Es ist eine Schulveranstaltung, da kann jeder hingehen. Außerdem wollte ich ja überhaupt über keines dieser extremistischen Pamphlete reden. Nur eins sage ich euch, ein vernünftiger Mensch geht nicht zu dieser Versammlung! So und nun weiter im Buch auf Seite 94.“

Marc beginnt zu prusten. Der Bullterrierwelpe vor ihm schiebt sich gerade eine Lesebrille auf die Nase.

Elena und Marlene sehen sich ebenfalls an. Selten hat sich ein Lehrer so peinlich vor ihnen entblößt. Nie wieder werden sie diesen Mann ernst nehmen können.

Aus Marc platzt es nun laut heraus. Er muss einfach lachen. Er kann nicht mehr. Doch Lemper ignoriert auch ihn. Er ist scheinbar völlig in die Seite 94 vertieft.

Ein lesender Bullterrierwelpe.

Auch Vera kann nun nicht mehr an sich halten und lacht.

Dann schließt Stefan sich an.

Der Bullterrierwelpe blinzelt über das randlose Brillenmodell „Fielmann intellektuell – ideal für Pädagogen!“

Das Lachen steckt an.

Marc hat einen Papierflieger aus einem der Flugblätter gebastelt.

„Das extremistischste an diesem Flugblatt sind seine Flugeigenschaften!“

Er wirft es in die Luft.

„Da Welpe, fass!“

Jetzt lacht die ganze Klasse.

Marc fliegt raus.

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