Von: Alexander Amethystow
Gerade mal elf Tage hat es gedauert, dann nahm der ehemalige armenische Präsident Sersch Sargsjan, Anführer der Republikanischen Partei (RPA), von seinen Plänen Abstand, nun als Premierminister weiter zu regieren. Kurz vor Ende seiner zehnjährigen Präsidentschaft hatte Sargsjan die Verfassung durch eine Volksabstimmung ändern lassen – Armenien wurde von einer präsidialen zu einer parlamentarischen Republik. Im Gegensatz zum Präsidenten ist die Ausübung des Amtes des Regierungschefs nicht auf eine bestimmte Anzahl von Legislaturperioden begrenzt. Als Sargsjan, entgegen seiner bisherigen Versprechungen, sich doch noch zum Premierminister nominieren ließ, wurde das von seinen Gegnern als Absicht gedeutet, er wolle bis an sein Lebensende regieren. Die gewaltlosen Demonstrationen in der Hauptstadt Jerewan griffen schnell auf den Rest des Landes über. Fast der gesamte Verkehr wurde lahmgelegt. Schon bald sah man unbewaffnete Soldaten in den ersten Reihen der oppositionellen Demonstranten marschieren. Bald streikten nicht nur die Jerewaner Studenten, sondern auch die Arbeiterinnen der Nähfabrik im Provinzzentrum Wanadsor. Hauptstraßen, Flughäfen und teilweise auch Grenzübergänge wurden blockiert. Am 23. April erklärte Sargsjan seinen Rücktritt und übergab die Macht an seine Parteigenossin Karen Karapetjan.
Doch der Anführer der Proteste, Nikol Paschinjan, vom liberalen Parteibündnis „Jelk“ („Ausweg“) gab sich damit nicht zufrieden – sein erklärtes Ziel sei es, die regierenden Republikaner von der Macht zu verdrängen. Obwohl seine eigene Partei nur neun von 105 Parlamentssitzen bei der letzten Wahl gewann, steht sein Ultimatum fest: Paschinjan möchte selber zum Regierungsoberhaupt gewählt werden, sonst würden die Proteste weitergehen. Angesichts dessen, dass Karpetjan als sehr russlandfreundlich gilt, erschien diese Forderung aus Sicht der westlichen Beobachter keineswegs vermessen oder schlicht größenwahnsinnig, sondern ganz und gar legitim. Schon bald wählte das Parlament mit den Stimmen einiger RPA-Abgeordenten Paschinjan zum neuen Regierungschef. Wer sich die Frage stellt, wie es soweit kommen konnte, kommt nicht umhin, sich die Geschichte des transkaukasischen Staates seit seiner Unabhängigkeit 1991 anzuschauen.
Blut, Boden, Brandy – die armenische Unabhängigkeit seit 1991
Manchmal wird Armeniens Rolle im Südkaukasus mit der Israels im Nahost vergleichen: Die Staatsgründung, die als Konsequenz aus dem zurücklegenden Genozid gedeutet wird, erfolgreiche Kriege gegen zahlenmäßig weit überlegenere Nachbarn, massive Gebietserweiterung und darauf folgende Isolation und schließlich Anlehnung an eine geographisch weit entfernte, aber an der Region stets interessierte Weltmacht (in einem Fall – die USA, im anderen – Russland).
Als die Sowjetunion zerfiel, gehörte Armenien zu jenen Republiken, die sich am schnellsten von der zerfallenden Weltmacht loslösen wollten. Heute ist das Land auf Gedieh und Verderb von Russland abhängig. Kein Wunder: Das Projekt der armenischen Unabhängigkeit besaß kaum eine ökonomische Grundlage. Die Industrie der damaligen sowjetischen Republik war völlig auf die gesamtsowjetische Arbeitsteilung angewiesen. Nun musste aber der neu gegründete Staat einen Krieg mit dem ebenfalls unabhängig gewordenen Nachbarn Aserbaidschan führen, von dessen Gebiet aus zur Sowjetzeit die Stromversorgung des halben Südkaukasus organisierte wurde.
Der (wortwörtliche) Stein des Anstoßes war das zum sowjetischen Aserbaidschan gehörende, aber mehrheitlich von Armeniern bevölkerte Autonome Gebiet Berg-Karabach. Als während der Perestroika die Anhänger diverser Nationalismen sich über die ungerechte Behandlung ihrer völkisch-kulturellen Besonderheiten durch den sowjetischen Staat beschwerten, verlangten die Azeris die Abschaffung der Karabach-Autonomie, während die Armenier die „Wiedervereinigung“ des auf einem Felsen gelegenen historischen Gebiets mit Armenien forderten. Beide Seiten hielten die sowjetischen Grenzen, gemessen an historischen Großreichen, denen sie hinterhernostalgierten für skandalös. Beide Seiten erklärten die jeweils andere erstens zu keinem richtigen Volk, und zweitens zu Eindringlingen in die Region und stützen ihre Thesen auf Verschwörungs- und Rassentheorien aller Art. Auf der armenischen Seite gab es Stimmen, die sich sich auf das „historische Armenien“ bezogen, samt der heutigen Osttürkei (von den kurdischen Nationalisten als Teil des noch zu gründenden Kurdistan ebenfalls beansprucht), Teile von Georgien und ca. die Hälfte des heutigen Aserbaidschan. Auf der anderen Seite wurde die pantürkistische Solidarität entdeckt, wobei Armenien als ärgerliches Hindernis für die Vereinigung mit dem „Brudervolk“ gesehen wurde. Die „Grauen Wölfe“ aus der Türkei und linksnationalistische armenische „Befreiungskämpfer“ aus dem Nahen Osten ließen nicht lange auf sich warten und betrieben regen Tour- und Terrorismus in den umkämpften Gebieten.
1994 endete der Krieg mit einer Niederlage Aserbaidschans. Mit Hilfe der weltweiten armenischen Diaspora (die zahlenmäßig die Bevölkerung der heutigen Armeniens bei weitem übersteigt) und später auch russischen Waffenlieferungen konnte sich der neue Staat behaupten. Insgesamt ein Fünftel des aserbaidschanischen Staatsgebietes, darunter der Großteil Karabachs, blieb unter armenischer Kontrolle. Eine Annexion hätte für das ohnehin isolierte Armenien das Ende der internationalen Anerkennung bedeutet, offiziell bestand Armenien deswegen darauf, gar keine Kriegspartei zu sein, da gegen Azeris nur die Aufständischen aus Karabach kämpfen würden. Auf den von Armeniern kontrollierten Gebieten, wo keine azerische Bevölkerung mehr übrig blieb, wurde die international nicht anerkannte „Republik Bergkarabach (Arzach)“ gegründet. Nicht einmal von Armenien diplomatisch anerkannt bleibt sie jedoch ein von den regulären armenischen Truppen gesicherter und an Armenien angrenzender, nur formell unabhängiger Staat.
Der Rüstungswettlauf mit dem erdölreichen Aserbaidschan, die ökonomische Blockade durch die Nachbarn, der Zusammenbruch von Industrie und Logistik sowie der Flüchtlingsstrom der Armenier aus Aserbaidschan brachte den neuen Staat in einen permanenten wirtschaftlichen Notzustand. Touristen wollten nicht in ein Krisengebiet reisen, der Export vom berühmten armenischen Brandy reichte nicht als Einnahmequelle und die Türkei und Aserbaidschan appellierten an die islamische Solidarität, was die internationale Isolation noch weiter verstärkte. Außer Russland unterhält lediglich der Iran, der Probleme mit der eigenen azerischen Minderheit hatte, mit Armenien gute Beziehungen. Die USA baute zwar kontinuierlich die Kontakte mit Aserbaidschan aus, aber um Armenien nicht komplett dem russischen und iranischen Einfluss zu überlassen, spendete sie auch etwas humanitäre Hilfe für das faktisch am Rande des Kollapses stehende Armenien. Zum Arbeiten reisten die Bürger des siegreichen armenischen Staates nach Russland und später sogar in die Türkei. Ihr im Niedriglohnsektor dieser Staaten verdientes Geld wurde für das Überleben Armeniens als Deviseneinnahmequelle wichtig.
Helden von Arzach an der Macht.
Wenn im Baltikum oder in der Ukraine mal wieder die Kollaborateure aus dem Zweiten Weltkrieg als Nationalhelden geehrt werden, dann ist die Empörung in den russischen Medien groß. Wenig beachtet bleibt in Russland dagegen die Tatsache, dass im befreundeten Armenien das Institut des Verteidigungsministeriums nach Drastamat Kanajan, dem Befehlshaber des armenischen Legion der Wehrmacht, benannt ist. Dabei ist es wenig verwunderlich, da die regierende RPA sich ganz offiziell auf die Ideen eines weiteren Nazi-Kollaborateurs, Garegin Nschde, beruft. Nach Nschde ist eine Medaille der armenischen Streitkräften benannt.
Die Hardliner, die sich heute in der RPA gesammelt haben, kamen 1998 an die Regierung, nachdem der erste Präsident des Landes, Lewon Ter-Petrosjan, seine Bereitschaft zu territorialen Zugeständnissen gegenüber Aserbaidschan demonstrierte. Er ging damit auch auf die Forderungen von westlichen Staaten ein. Die Notwendigkeit, eine Friedensregelung für Berg-Karabach zu erreichen, sahen die Regierungen von Aserbaidschan und Armenien im Prinzip ein – bloß ging es bei dem aus Sicht der Weltmächte störenden Regionalkonflikt für die Beteiligten um nicht weniger als um ein Stück „Vaterland“ und „Identität“. Für Armenien wäre ein solcher Friedensschluss der politische Preis für die Möglichkeit, der Wirtschaftsblockade zu entkommen, die von Aserbaidschan, der Türkei und teilweise auch von Georgien aufrechterhalten wird. Um überhaupt wieder irgendwie am Weltmarkt teilnehmen und die dafür nötigen Weltwährungen verdienen zu können, sollte der partielle Verzicht auf die im Karabachkrieg eroberte Gebiete in Betracht gezogen und darüber verhandelt werden, wie weit das gerade erst von einer „Fremdherrschaft“ befreite Volk und Gebiet wieder aserbaidschanischer Staatsautorität unterstellt werden soll.
Mit dem zweiten Präsidenten Armeniens, Robert Kotscharjan, kamen Politiker aus Karabach an die Macht, die dem engen Verhältnis zu Russland eine Garantie für den Erhalt der gewonnenen Gebiete sahen. Kotscharjans Nachfolger Sersch Sargsjan gehört zu dieser Kohorte genauso wie der „Übergangsregierungschef“ Karen Karapetjan. Die RPA wurde zur „Partei der Macht“, vergleichbar mit Putins „Einiges Russland“. Während Aserbaidschan mit US-amerikanischer Unterstützung die Baku-Tiflis-Ceyhan–Pipeline baute, um Russland vom Geschäft mit den Energieträgern der kaspischen Region, und sei es nur als Durchleitungsland, auszuschließen, gab Armenien der russischen Militärbasis in Gjumri eine langfristige Perspektive und ließ seine Grenze zur Türkei von russischen Grenztruppen schützen – ohne sich gleichzeitig völlig vom Westen abzuwenden.
Um den „Friedensprozess“ kam Armenien dennoch nicht herum. Doch nun wurde vor allem mit der Türkei verhandelt, während die Verhandlungen mit Aserbaidschan stagnierten. 2009 haben sich Armenien und die Türkei immerhin auf die Öffnung der Grenze geeinigt, was viele armenische Gastarbeiter in die Tourismusbranche des verhassten, aber reicheren Nachbarlandes spülte. Weiter kam die „Entspannungspolitik“ nicht. Es war auch kein Geheimnis, dass die Vermittler, nämlich Russland, die USA und Frankreich (stellvertretend für die EU) sich ausschließende Ziele verfolgen und die Hauptkonfliktparteien den gegenseitigen Hass in den Rang der jeweils offiziellen Staatsideologie hoben.
Ähnlich wie die Ukraine verhandelte Armenien mit der EU über ein Assoziierungsabkommen, doch unter Sersch Sargsjan trat der Staat 2015 der Eurasischen Wirtschaftsunion bei, obwohl eine Mitgliedschaft in beiden Unionen schlicht unmöglich ist. Die EU setzte ihre Kooperation mit Armenien jedoch fort und war auch bereit, weiterhin finanzielle Unterstützung für die „dringend benötigten Reformen“ nach Armenien fließen zu lassen. Dennoch wurde Armenien von allen Seiten als Russlands treuester Verbündeter in Transkaukasien wahrgenommen.
Russlands Engagement: Verteidigung oder Imperialismus? Falsche Frage!
Russlands Politik sorgt bei den Linken weltweit für lange Debatten. Verteidigt sich Putin nur gegen einen aggressiven Expansionsdrang der NATO oder ist seine Politik dieselbe, wie sie seine Konkurrenten weltweit auch praktizieren, oder sogar gar schlimmer, wenn man bedenkt, dass er ja gar kein „lupenreiner Demokrat“, sondern ein „Autokrat“ und „Diktator“ sei, der Minderheiten nicht mit Quoten, sondern mit Repressionen begegnet und der Opposition keine Chance lässt?
Mit dem Ende der Sowjetunion deklarierte Russland seinen Willen, Demokratie und Marktwirtschaft wie im Westen aufzubauen, aber auch weiterhin eine Weltmacht zu bleiben, deren Interessen Rechnung zu tragen sei. Dieser Anspruch wurde zwar durch die bescheidenen Reste der militärischen Macht, die das neue Russland vom „bösen“ Vorgängerstaat geerbt hat, aber keineswegs von ökonomische Stärke, die der Konkurrenz der Sieger des Kalten Krieges nicht standhalten konnte, gestützt.
Russland ist kein Staat, den die USA – so wie Kasachstan oder Aserbaidschan – auf die Dienstbarkeit am westlichen Rohstoffebedarf festlegen konnte. Wo dieser Staat am Energiegeschäft der postsowjetischen Länder mitwirkt, droht er politisch zu „dominieren“, was im Westen sofort als „Großmachtgebähren“ und „Sehnsucht nach Rückkehr der Sowjetunion“ ausgelegt wird.
Das betrifft nicht bloß den ökonomischen Nutzen, sondern die politische Orientierung der beteiligten Länder: Russland stand und steht im Verdacht des „Neoimperialismus“, soweit und so lange es mit seinen Pipelines etc. ähnliches zu bewirken versucht, wie die USA und die EU es mit ihren Projekten tun. Aus der Sicht der bereits etablierten kapitalistischen Mächte steht Russland – nicht viel anders als früher die UdSSR – quer zu Weltmarktsystem, Konkurrieren und Einflussnehmen, was die Westmächte betreiben.
Anders als durch alle ihre konkurrierenden Verbündeten finden die USA daher durch jeden Einfluss, den Russland im post-sowjetischen Raum, Osteuropa, Nahost oder Afrika noch hat bzw. neu entfalten könnte, ihr Monopol auf das Management des globalen Energiegeschäfts und den Status der erfolgreichsten Weltmacht, mit der es sich kein Staat der Welt verscherzen darf, in Frage gestellt.
Dass die russische Führung – ob unter Jelzin oder unter Putin – samt großen Teilen der Bevölkerung über so eine Behandlung nicht glücklich ist, liegt auf der Hand. Russland will eine kapitalistische Weltmacht sein und die Nostalgie nach den Zeiten, wo man mit einem anderen Wirtschaftssystem eine Weltmacht war, ist keine Absage an den Kapitalismus. Russland verfolgt keine „friedlicheren“ Zwecke als der Westen. Jetzt ließe sich sagen, damit wäre die Frage geklärt, Russland sei genauso imperialistisch wie der Westen.
Wer allerdings mehr an Analyse als an einer ethischen Beurteilung interessiert ist, könnte einen Blick auf die Russland zur Verfügung stehenden Mitteln werfen. Dann wird deutlich, dass auch 30 Jahre Kapitalismusaufbau immer noch nicht genügen, um der westlichen Konkurrenz ökonomisch das Wasser zu reichen. Für die liberale Opposition in Russland und ihren westlichen Betreuer ist es stets ein Grund zu Häme, für die russischen Staatsmedien hingegen für wilde Verschwörungstheorien. Es bleibt aber dabei – Russland möchte Einfluss mit seiner Wirtschaft ausüben, ist aber mangels wirtschaftlicher Potenz immer wieder alleine auf den Gewaltapparat zurückgeworfen.
Russland verfügte zwar in den neunziger Jahren über das größte ökonomische Potential auf dem Gebiet der sogenannten „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“. Aber dass dort nicht gleich das gesamte ökonomische Leben kollabierte, wie in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken z.B. in Armenien, sagt noch nicht viel. Armenien war für Russland zwar wichtig als letztes Bollwerk gegen einen NATO-Vorstoß, aber weniger als ein Absatzmarkt: Armenien hat keine zahlungskräftige Nachfrage zu bieten für irgendwas, was in Russland produziert wird.
Eine funktionelle Erpressung, eine nützliche und ausnutzbare „Abhängigkeit“, die westliche Führungsmächte herstellen und pflegen, ist es jedenfalls nicht, was Moskau mit seinen Energielieferungen bzw. mit deren – angedrohter oder kurzfristig wirklich stattfindender – Unterbindung im postsowjetischen Raum zuwege bringt: Damit wenigstens noch die letzten, auch für Russland unverzichtbaren Reste eines grenzüberschreitenden Verkehrs stattfinden können, ist die Ablieferung von Energie an die Nachbarn unbedingt nötig – auch wenn auf unabsehbare Zeit feststeht, dass die Bezahlung nur in dem Anwachsen des schon laufenden Schuldenkontos des Empfängers besteht. Der selbst wiederum sieht darin für sich eine einzige Veranlassung, auf Abhilfe zu sinnen und möglichst auch noch diese, jeder kapitalistischen Berechnung spottenden „wirtschaftlichen Beziehungen“ zu kappen, weil sie ihm wie eine unerträgliche Einschnürung seiner „Selbstständigkeit“ vorkommen. Russland pocht auf die Anerkennung als Weltmacht, aber das Ticket in den Klub bleiben die Atomwaffen, wirtschaftlich dreht sich immer noch alles um den Export von Rohstoffen und die dafür nötigen Transferwege. Da können Staaten, in deren Bankensystem die Eliten von Russland und Armenien ihr Vermögen aufbewahren und mit deren Währung Russland und Armenien ihre Geschäfte auf dem Weltmarkt bezahlen, mit ganz anderen Druckmitteln aufwarten. Die Freundschaft von Belarus oder Armenien, Kasachstan oder Kirgisien zu Russland ist ein ziemlich fragiles und kostspieliges Modell. So bezieht Armenien bis heute das russische Gas zu einem „politischen“ Preis und als erstes muss der neue Regierungschef darum verhandeln, dass es dabei bleibt.
Die Ökonomien von Russland und Armenien sind sich ähnlicher, als die erfolgreicherer kapitalistischer Länder. KapitalistInnen in beiden Staaten sind dann erfolgreich, wenn sie über Kontakte in den Staatsapparat verfügen. Häufiger sind sie mit seinen Vertretern direkt verwandt oder verschwägert und kommen so an attraktiven Staatsaufträge. Aus der Sicht der USA und der EU ist das ein Skandal, weil solche Geschäftsmodelle verhindern, dass sich ihre eigenen KapitalistInnen diese neuen Märkte erschließen, Land und Leute nutzen und ihre Waren absetzen können. Russland stemmt sich dagegen u.a. mittels des Projekts einer eigenen Zollunion und träumt davon, damit ein ansatzweise ähnlich erfolgreiches imperialistisches Projekt wie die EU aufzubauen. Ein antikapitalistisches Vorhaben ist das entgegen manch linkem Vorstellungen also ganz und gar nicht.
Ende einer großartigen Freundschaft?
Während der letzten Amtszeit von Sargsjan (2013-2018) nahm die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu. Zwischen Juli und September 2015 rollte eine Protestwelle gegen die Erhöhung des Stromtarifs durch die wichtigsten Städte des Landes. Die Ursache für die geplante drastische Erhöhungen war, laut Protestbewegung, Korruption und „Missmanagement“ bei einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft von „Inter RAO“, einem russischen halbstaatlichen Unternehmen, wo ausgerechnet der enge Putin-Vertraute Igor Setchin dem Direktorenrat vorsteht. In Russland solidarisierte sich die Opposition mit den so genannten „#ElectricYerevan“-Protesten. Am Ende waren die Proteste erfolgreich – die Stromtarife wurden eingefroren.
Im April des nächsten Jahres kam es an der Grenze zu Karabach zu einem „Viertagekrieg“ mit Aserbaidschan, der für die armenische Seite mit Gebietsverlusten endete. Besonderes empörend fand die armenische Öffentlichkeit die Tatsache, dass die aserbaidschanische Armee massiv nachgerüstet hat und zwar mit Waffen aus Russland. Die Einnahmen aus dem Ölexport steckte die Regierung in Baku in die Armee, die sowieso zahlenmäßig der armenischen bei weitem überlegen ist. Um das Abdriften des strategisch wichtigen Nachbarn am Kaspischen Meer in Richtung der NATO zumindest zu bremsen, geht Russland seitdem verstärkt eine Kooperation mit Aserbaidschan ein. Aus der Sicht der armenischen Opposition ist es ein Beweis dafür, dass der Beitritt zu der Eurasischen Wirtschaftsunion voreilig war und die RPA gegenüber Russland eine servile Haltung einnimmt.
Nichts passiert?
Auffällig war die offizielle Reaktion Russlands auf die neuesten Ereignisse in Armenien. Vergleiche zur der „orangenen Revolutionen“ in anderen postsowjetischen Republiken werden vehement abgewiesen. Alles sei nur eine „innere Angelegenheiten des armenischen Volkes“, das seine „Weisheit“ unter Beweis gestellt hat. Anstatt Theorien über die lange Hand von der CIA und State Department zu verbreiten, überbieten sich die staatlichen Medien mit Komplimenten an die „Freunde“ und das „Brudervolk“. Armenier hätten lediglich für ein völlig legitimes Anliegen gewaltlos demonstriert, von anti-russischen Slogans sei weit und breit nichts zu hören, so der Grundton der Berichterstattung.
Doch die russische Opposition sieht darin ein Anzeichen dafür, dass so eine schwere außenpolitische Niederlage kaschiert werden soll. Alexei Nawalny und andere bekannte Personen des Anti-Putin-Lagers rufen dazu auf, von der Erfahrungen der armenischen Proteste zu lernen. Es sind also sich diametral widersprechende Deutungen der Ereignisse, die der russischen Öffentlichkeit präsentiert werden.
Am Anfang stellten die russischen Medien die Proteste als lediglich gegen die Personalie von Sargsjan gerichtet dar und suggerierten, die RPA würde an die Macht bleiben. Doch binnen Wochen baute Paschinjan den Druck auf der Straße aus und erzwang am 8. Mai seine Wahl zum Regierungschef. Für ihn stimmte nicht nur seine eigene Partei „Jelk“, die Fraktion des Oligarchen Gagik Zarukjan und die linksnationalistische Daschnakzutjun („Armenische Revolutionäre Föderation“), die zuvor mit der RPA verbündet war. Elf Abgeordneten der RPA-Fraktion stimmten ebenfalls für Paschinjan und verschafften ihm dadurch erst die nötige Mehrheit. Paschinjan kündigt an, lediglich bis zur Wahl eines neuen Parlaments zu regieren. Der Wahltermin für Parlamentswahlen steht bis heute noch nicht fest. Paschinjan macht seine Absicht immer deutlicher, eben kein Übergangsregierungschef zu sein, sondern sich als ein volksnaher Politiker an der Spitze zu etablieren.