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Proletarische Welten

VI: Ich wollte niemals arbeiten…

Arbeit ist scheiße und im Grunde habe ich gar keine Zeit für so etwas wie Lohnarbeit. So dachte ich in meiner Jugend. Mittlerweile arbeite ich schon 41 Jahre im selben Betrieb, habe noch keinen Tag gefehlt und mich plagt ein wenig die Angst vor der bevorstehenden Verrentung… Das ist natürlich gelogen. Tatsächlich gehe ich in die Arbeit, wann immer meine Gesundheit mir dies erlaubt, bin Mitglied des Betriebsrats, den wir vor langer Zeit gegründet haben, weil es Bewegung, viel Spaß und Ärger sowie eine gewisse Verbesserung für die Belegschaft versprach. Nebenher versuche ich erfolglos, der Verblödung zu entgehen, die langjährige Lohnarbeit mit sich bringt. Wie konnte es so weit kommen?

Die Disziplinierung beginnt natürlich im Kindergarten und in der Schule. Man wird dort gezwungen, unsinnige Dinge zu tun und sehr brutal an die Allgegenwart von Idiotie, Autoritätshörigkeit, Ignoranz, Konkurrenz und Stumpfsinn gewöhnt. Man wird zu einem braven Staatsbürger gemacht, einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft – zum Nutztier und Schlachtvieh. Eine mindestens ebenso wirksame Disziplinierung liegt darin, dass manche Eltern keine Millionen haben, die man genüßlich verbraten kann, sondern – wie in meinem Fall – ProletarierInnen sind.

„Magst auch den Blues?“

Nach dem Elend des Schulbetriebs kann ich mich dem Elend der Arbeitswelt nur wenige Monate entziehen. Wehrdienst ist zu jener Zeit obligatorisch für Männer. Ich entscheide mich aus Bequemlichkeit dafür, Zivildienst zu machen. Die Vorstellung, eineinhalb Jahre mit Arschlöchern eingepfercht zu sein und Dosenbier zu trinken ist einfach zu unattraktiv. Mir geht es darum, in einer eigenen Wohnung zu leben. Da diese finanziert werden muss, bis der Zivildienst beginnt, muss ich, widerwillig und angeekelt, meine Arbeitskraft verkaufen.

So kommt es, dass ich nach den vielen Jobs, mit denen ich mich während der Schulzeit mit etwas Geld versorgt hatte, nun eine Vollzeitstelle annehme. Die Arbeit besteht hauptsächlich darin, Güterwagons voller Waschmaschinen, Kühlschränke oder Möbel mit Sackkarren zu entladen.

Der Lagermeister ist ein Idiot. Wenn er sich langweilt, kommt er aus seinem Büro und weist uns an, das zu tun, was wir ohnehin die ganze Zeit machen. Der Job ist traurig und befremdlich und lustig.

Milan ist da. Er war bis vor Kurzem im Knast und möchte in Festanstellung übernommen werden. Das macht ihn zum Arschloch, denn er ist äußerst leistungsbereit und macht sich uns gegenüber zum Sprachrohr des Lagermeisters. Nach zwei Wochen erzählt er mir, warum er so scharf auf diese Arbeit ist: Seine neue Lebensgefährtin hat mehrere Kinder, die er jetzt mit aufzieht. Sie braucht ihn draußen. Ohne Drogen, ohne Gewalt. Er braucht die Arbeit.

Richard, ein Junge vom Land, ist da. Er kommt jeden Tag eine halbe Stunde früher und liest seine Bildzeitung. Oft kippt er um und bricht unter Kühlschränken zusammen. Wir ziehen ihn unter den Geräten hervor und bringen sie zur technischen Prüfung. Nach wenigen Tagen wird Richard entlassen.

Der blonde Hans ist da. Er heißt nicht wirklich Hans, aber jedesmal, wenn er mit dem Gabelstapler vorbei fährt, singt er: „Ich bin der blonde Hans mit dem langen Schwanz. Ich bin der blonde Hans, jawoll!“ Mehrmals am Tag ist er der blonde Hans. Jeden Tag.

Manni ist da. Er ist Ende 20 und wohnt bei seinen Eltern. Manni besitzt einen Schnauzbart und eine sehr große Brille. Jeden Tag holt ihn sein Vater von der Arbeit ab. Manni ist entmündigt. Er bekommt 10 Mark Taschengeld pro Tag, allerdings muss er sich davon sein Bier selbst kaufen – auch zuhause. Das interessanteste, das Manni je erlebt hat, war der Überfall einer Hooligangruppe auf einen Schulfasching. Zwei- bis dreimal die Woche erzählt er von diesem schönen Erlebnis. „Die hatten Baseballschläger!“ Manchmal rastet Manni aus, dann schleudert er seinen Sackkarren gegen die Metallwand eines Güterwagons – wieder und wieder. Das ist höllisch laut und kann mehrere Minuten dauern. Der Lagermeister beendet Mannis Wutausbrüche jedes mal mit der selben Drohung: „Du hörst jetzt auf oder ich muss deinen Eltern wieder davon erzählen!“

Einige Monate später begegne ich dem blonden Hans auf einem Chicago-Blues-Konzert. Er tanzt extatisch und mit nacktem Oberkörper. Als er mich sieht, ruft er: „Du hier? Magst auch den Blues?“ Ja, ich mag auch den Blues.

Ich beginne meinen Zivildienst

Das Seniorenheim, in dem ich meinen Zivildienst ableiste, ist schick, neu und teuer. Nach meinen 20 Dienstmonaten werde ich noch fast ein Jahr dort arbeiten. Eine halbwegs solide Einführung in meine neue Tätigkeit als Pflegehilfskraft auf der Schwerstpflegestation findet nicht statt. Erst nach meiner zweiten Spätschicht erfahre ich, dass fast alle BewohnerInnen Zahnprothesen haben, die ich vor dem Zu-Bett-Bringen unbedingt entfernen muss. Woher zum Teufel hätte ich das wissen sollen?

Nahezu alle BewohnerInnen der Schwerstpflegestation bekommen den gleichen Cocktail verschrieben – mehrere Neuroleptika, morgens, mittags und abends einzunehmen. Ob das in einigen Fällen aus medizinischer Sicht gerechtfertigt ist, weiß ich nicht. Es hat aber den erwünschten Effekt, dass die mehr oder weniger dementen SeniorInnen leichter zu pflegen sind. Was der Standard-Cocktail mit einem Menschenhirn macht ist alles andere als schön. Ich weiß das. Ich bin neugierig.

Um 17 Uhr beginnen wir, die BewohnerInnen zu Bett zu bringen. Entkleiden, Waschen, Fäkalien entfernen, Einlagen und Urinbeutel wechseln, Medikamente verabreichen, Mundhygiene, Stomaversorgung… – Wir haben für jeden dieser Menschen nur wenige Minuten Zeit. Durchaus vielen gefällt es nicht, mitten am Tag ins Bett zu sollen, aber um 19.30 kommt die Nachtschicht, bis dahin muss die Station durch sein. Wir verdonnern erwachsene Menschen für bis zu 15 Stunden zur Nachtruhe. Aber wir folgen nur Anweisungen…

Herr A. sorgt einmal für große Empörung. Er weigert sich, das Bettgitter hochziehen zu lassen, das ihn vor einem Sturz aus dem Bett schützen soll. Nicht einmal in Bergen-Belsen hätte er Gitter direkt am Bett gehabt. Bei mir bleibt die Empörung aus, denn Herr A. war nach seiner Emigration nach Holland in zwei KZs. Er kann bezüglich seiner Würde die Vergleiche anstellen, die ihm belieben.

Einige der desorientierten BewohnerInnen befinden sich in ihrer Jugend, oder in der sonst besten Zeit ihres Lebens. Für viele war das der Nationalsozialismus. Das ist unproblematisch, sofern sie nicht beim Essen „Judensau!“ durch den Raum schreien. Letzteres ist eine Spezialität von Frau L., die konsquent im Jahr 1939 lebt. Frau L.hat nebenher das Hobby, in ihrem Zimmer überall hin zu urinieren, nur nicht in ihre Einlage oder die Toilette. Ein Hilfspfleger, der jeden Morgen seine Nationalzeitung liest, nutzt eines Tages dieses bestgedüngte und ungut riechende Zimmer, um mit einer reichlich irren Pflegerin Sex zu haben – auf dem Bett von Frau L., die sich gerade im Speisesaal der Station befindet. Die beiden werden von einer konservativen Kollegin erwischt und bei der Heimleitung gemeldet. Niemand trauert ihnen hinterher. Die Geschichte sorgt für eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Heiterkeit.

„Spitzi, gib mir eine Spritzi“ –

Der Spruch, demente alte Menschen würden wieder zu Kindern, kursiert auch unter Pflegekräften. Er ist freilich Bullshit. Acht oder neun Jahrzehnte haben die Menschen Erfahrungen gemacht, Kinder großgezogen, gearbeitet, geliebt, manchmal vielleicht Verbrechen begangen oder Unrecht erlitten. Ihre Erlebnisse tragen sie mit sich, Erlebnisse haben die Menschen geformt. Der Charakter der Menschen scheint durch, auch wenn sie Alzheimer-Stufe 6 oder einen persönlichkeitsverändernden Hirntumor haben. Frau K. hat rasende Schmerzen. Morphin oder Valoron schützen sie nicht mehr. Sicher, sie stirbt, aber sehr langsam. Wenn wir sie versorgen, schreit sie uns an und schleudert uns Obszönitäten entgegen, versucht, uns zu schlagen. In manchen Momenten fängt sie sich und gehört nicht mehr ganz ihren Schmerzen. Sie bittet dann jedesmal unter Tränen um Entschuldigung, denn leider bekommt sie ihr eigenes Handeln noch mit. Frau K. rührt alle sehr an. Die Achtung vor ihr ist groß. Wir sind um ihretwillen sehr froh, als sie es schließlich geschafft hat.

Frau S. bringt eines Tages unseren entsetzten Stationsleiter dazu, sich schleunigst Zeugen herbeizuholen. Sie hat ihn entnervt angeschrieen: „Nicht schon wieder! Nicht schon wieder ficken!“ Mir bleiben bis zu ihrem Tode derartige Vorwürfe zum Glück erspart. Allgemein ist Frau S. eher lustig und spricht oft in Reimen. Ihr Lieblingsspruch ist „Spitzi, gib mir eine Spritzi!“

Frau N. redet oft mit ihrem „Schatzi“. Manchmal liebevoll, manchmal ernst, manchmal rügend. Ihr Schatzi ist ihr jeweiliges Gegenüber, häufig aber auch ihr Spiegelbild oder ein Kleidungsstück, das sie vor sich hält. Einmal entwendet Frau N. die Hose des Stationsleiters aus unserem Umkleideraum und wir finden sie und ihr Schatzi in eine lebhafte Diskussion verwickelt. Sie verabschiedet sich nur widerwillig und nach der Zusicherung, dass die Hose in wenigen Minuten zurück sein wird. Es ist die Idee des Stationsleiters – nicht ihrer Verwandten – Frau N. einen Teddybären als dauerhaften Ersatz für die Kleidungsstücke zu schenken.

Die desorientierten und auf Drogen gesetzten BewohnerInnen sind de jure keine Gefangenen und sollen sich im Brandfall auch selbst in Sicherheit bringen können. Deshalb sind die Erdgeschosstüren von innen zu öffnen. So kommt es, dass sich manche der dementen SeniorInnen auf Streifzüge begeben und vom Pflegepersonal gesucht werden. Manche sind unterwegs zu ihren Kindern, mit denen sie eine Verabredung zu haben glauben, manche haben kein bestimmtes Ziel. Andere wollen nach Hause, in ihre Heimatstadt, die sie nie wieder sehen werden. Meistens reicht es dann, durch Freundlichkeit die Laune zu heben und durch gutes Zureden einen Aufschub der Reise zu erreichen. Manchmal muss man darauf verweisen, dass bald Regen kommt, oder die Kinder bald zu Besuch kommen. Man muss einfach lügen.

Eines Tages bemerken wir – wieder einmal – die Abwesenheit von Herrn B. Auf der Suche nach ihm stoße ich auf einen Streifenwagen dessen Besatzung Herrn B. aufgelesen hat. Ich steige zu und erfahre von zwei miesgelaunten Beamten, dass ihr Passagier ihnen sofort auf den Rücksitz gepisst hat. Ich mache die beiden genüßlich darauf aufmerksam, dass Herr B. ein Kollege von ihnen ist. Herr B. bestätigt: „Ja. Kriminalpolizei.“

Ein weiterer Polizeibeamter a.D. will mich eines Abends erschießen, da ich ihm seine Zahnprothese wegnehmen will. Es ist ein wenig traurig zu beobachten, wie er nach seiner Pistole greift und sie nicht findet.

Ein anderes mal bricht derselbe Mann in Tränen aus, weil ich ihn gesiezt habe. Es stellt sich heraus, dass ich gerade sein alter Kumpel X bin. Warum wir plötzlich nicht mehr per Du seien, will er wissen. Was er mir denn getan hätte, wir kennen uns doch jetzt schon so lange… Sobald ich die Situation verstehe, spreche ich ihn mit seinem Vornamen an, entschuldige mich wortreich dafür, dass ich gerade so schusselig war, ihn nicht zu erkennen. Wie konnte mir das nur passieren? Der Übergang von verzweifelter Traurigkeit zu Erleichterung dauert wenige Sekunden. Schön, dass wieder alles gut ist zwischen uns.

Manchmal sterben BewohnerInnen. Ihr Tod bedeutet mancherlei. Für einige Verwandte bedeutet er ein Wettrennen um die Habseligkeiten der Verstorbenen – eine Minderheit zwar, doch keine verschwindende.

Für uns Pflegende bedeutet der Tod eines Heimbewohners: Ein Arzt schaut vorbei. Er stellt nach meist oberflächlicher Untersuchung offiziell den Tod fest. Wir versorgen die Leiche, waschen sie, ziehen ihr ein Flügelhemd an, legen feuchte Kompressen auf die Augenlider, fahren den toten Körper in den Kühlraum im Keller. Ich mag diese Arbeit, denn ich kann mir dabei Zeit lassen, die Toten sind sozial recht anspruchslos und einfach im Umgang und es wird akzeptiert, dass man nach dieser Arbeit eine Zigarettenpause macht. Manche der examinierten Pflegerinnen vermeiden es, mit Leichen allein in einem Raum zu sein oder rufen mich, wenn Tote im Aufzug begleitet werden müssen – sie nehmen lieber die Treppe.

Alle KollegInnen gehen achtungsvoll mit den toten Körpern um. Die Achtung gilt wohl dem Menschen, der nun Vergangenheit ist, dessen Erfahrungen, Gedanken, Wünsche und Nöte für immer dahin sind. Zum Teil mag die Achtung auch dem Phänomen der Sterblichkeit selbst geschuldet sein. Auch religiöse KollegInnen halten sich angesichts des Todes meist respektvoll mit jedem Glaubens-Bullshit zurück. Der Moment lässt oberflächliche Kommentare obszön erscheinen.

Der Tod von BewohnerInnn bedeutet übrigens auch: Weniger Arbeit in den nächsten Tagen, da ein Bett nicht belegt ist.

Dass ich KollegInnen die Versorgung der Toten abnehme, verschafft mir ein paar Privilegien. Ebenso, dass ich bereit bin, die schwersten Fälle zu übernehmen oder nekrotische Gliedmaßen zu verbinden. Mein Hauptprivileg ist, dass ich täglich 20 bis 30 Minuten zu spät komme, für die ich freilich bezahlt werde.

„Alles, was langsam macht“

Der engagierteste Altenpfleger, der mir in meiner Zeit in der „Seniorenresidenz“ begegnet, ist Jörg. Gewissenhaft, fürsorglich, einfühlsam und sachkundig ist er. Jörg kümmert sich engagiert um die Dekubitusprophylaxe bei BewohnerInnen, die nicht mehr mobil sind. Wenn durch Pflegefehler (oft infolge des Hin- und Hergeschiebes von Sterbenden zwischen Krankenhaus und Altenheim) Dekubitusgeschwüre entstanden sind, versorgt er sie vorbildlich. Jörg nuschelt so stark, dass er teilweise nicht zu verstehen ist. Außerdem mag Jörg „alles, was langsam macht“.

Als Jörg seine Wohnung verliert, bietet ihm die Heimleitung ein Zimmer im Wohntrakt an. Dafür wird, neben Mietzahlungen, von ihm erhöhte Flexibilität verlangt. Eines Abends findet der Nachtdienst Jörg auf einem Sessel im Flur. Die Kolleginnen können ihn nicht wecken und wählen den Notruf. Jörg hatte sich nur weggebeamt, aber am falschen Ort. Er wird fristlos entlassen. Wir anderen aus dem Team sind stinksauer: Die Station ist chronisch unterbelegt und nun soll die engagierteste Kraft vor die Tür gesetzt werden. Unsere Interventionen bei der Heimleitung bleiben fruchtlos, Jörg ist raus. Spontan werden fast alle von uns erst mal krank.

Als ich von meiner Krankheit genesen bin, kehre ich auf eine jörgfreie Schwerstpflegestation zurück. Die Stimmung ist mies – die Spannung groß. Zum Glück stellt meine Ehefrau zur gleichen Zeit fest, dass sich auf unserem Konto 6800 Mark angesammelt haben. Ich höre sofort auf zu arbeiten. Jörg ist nun bereits viele Jahre tot.


Proletarische Welten ist eine unregelmäßige erscheinende Artikelserie des Autonomie Magazins. Sie lässt Menschen aus proletarischen Verhältnissen zu Wort kommen, um Erfahrungen aus dem echten Leben zu teilen. Die Serie will eine Brücke schlagen, zwischen der radikalen Linken und der proletarischen Klasse. Alle Beiträge aus der Reihe findet ihr hier.

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