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Krise & Virus

Corona-Papers II

Das folgende fünfteilige Diskussionspapier wurde am Anfang der Corona-Pandemie innerhalb der Assoziation autonomer Gruppen diskutiert. Dort konnte aber kein Konsens darüber gefunden werden, weswegen wir das Papier nun bei uns veröffentlichen, obwohl ein paar wesentliche Aspekte fehlen. Das größte Manko dürfte die Verkürzung des Papiers auf eine mögliche Produktionskrise sein, die Auswirkungen auf das Finanzsystem finden nur am Rande Erwähnung. Ebenso wird das Spannungsfeld zwischen Reform und Revolution auf zu einfache Weise betrachtet. Dennoch lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Papier, vor allem, weil es sich umfassend mit der Frage von Sicherheit, Ordnung und Freiheit, der faschistischen Gefahr, als auch mit den falschen Vorstellung mancher Verteilungslinker und den Gefahren durch eine Produktionskrise beschäftigt, und dazu einen klaren Standpunkt einnimmt. Wer Positionen zu Detailfragen sucht wird hier nicht fündig werden, vielmehr bietet das Papier klare, allgemeingültige Standpunkte, aus denen sich Erkenntnisse für die Praxis ableiten lassen. Da die Papiere bereits älter sind haben wir diese, wo nötig, aktualisiert.

Teil I bleibt allgemein, während es in Teil II explizit um Fragen von Verteilung (von Werten) und Reform geht. Teil III und IV beschäftigen sich noch einmal ausführlich mit den Themen Sicherheit, Ordnung, Freiheit und den Einschränkungen der Grundrechte. Zum Schluss behandelt Teil V noch einmal die Gefahr die von einer Produktionskrise ausgeht, aber auch die Chancen für den Klassenkampf von unten.

Kritiken, Anmerkungen und Beschimpfungen können wie immer gerne an info@autonomie-magazin.org geschickt werden.

Euer Autonomie Magazin


Ihr werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.

Sobald in unserer kapitalistischen Welt eine Krise ausbricht, erschallt von Rechts bis Links der Ruf nach Millionen und Milliarden (Euro, Dollar…), um die Folgen zu bekämpfen oder zumindest abzumildern. Die einen wollen die Wirtschaft retten, die anderen die sozialen Standards gewahrt wissen. Die einen fordern mit wissenschaftlicher Kennermiene ein bedingungsloses Grundeinkommen, die anderen drohen sich das „Geld von den Bonzen zu holen“. Alle diese PolitikerInnen, Gewerkschaftsbonzen, Verbandsheinis und selbsternannten Interessensvertreter gemein ist, dass sie Geld (tote Arbeit) und damit Werte verteilen, die von der ArbeiterInnenklasse erst einmal geschaffen werden mussten und die sie größtenteils nicht selbst erarbeitet haben. Dabei folgen sie grundsätzlich jener kapitalistischen Logik, die vorgibt, sich alles erkaufen, bzw. wie man sich heute ausdrückt, „holen“ zu können. Wie eben: Ich hol mir ´ne Wohnung oder ein Auto. Aber auch ´n Partner, Gesundheit, Fitness und Glückseligkeit.

Von FDP bis „linksradikal“ unterscheiden sich die Rezepte im Endeffekt nicht sonderlich. Alles scheint mit Geld regelbar, immer nach dem Motto: „Arm abgerissen, was soll´s? Kleb ´nen Geldschein drauf und alles wird gut.“ Auch die scheinbar altruistischen Forderungen der Linken weichen jetzt in der Coronakrise von dieser Systemlogik nicht ab. Was Wunder.

„Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren.“

Karl Marx /Friedrich Engels „Die deutsche Ideologie“ MEW Bd. 3

„Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“

Karl Marx „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“ MEW Bd. 13

Wir sind eben alle nur die Kinder unserer Eltern.

Das Märchen von der wundersamen Vermehrung

Leider unterschlagen all die schönen Forderungen nach höheren Löhnen und Sozialleistungen, Nulltarif für Busse und Bahnen, bedingungslosem Grundeinkommen, usw. usf., die Tatsache, dass sie laufen muss wie geschmiert, die kapitalistische Maschine, das System – das man eigentlich abschaffen will. Denn all die selbsternannten „Robin Hoods“ setzen ja erst mal voraus, dass die Werte existieren, die sie da so großzügig verteilen, sprich setzen die vorangegangene Ausbeutung deranderen stillschweigend voraus. Busse & Bahnen sollen umsonst fahren und gleichzeitig die Bediensteten des öffentlichen Dienstes mehr Gehalt bekommen. So werden von diesen Leuten sämtliche ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ausgesetzt, das Perpetuum Mobile erfunden, eine Maschine vorausgesetzt, die mehr ausspuckt als man in sie reinsteckt. Chapeau!

Dieselbe Reaktion zeigt sich jetzt auch bei der Coronakrise. Von der Regierung bis zur Opposition (bis in die revolutionäre Linke hinein) werden jetzt Milliardengeschenke versprochen, gemacht und eingefordert. Gestritten wird nur darüber, wer was kriegen soll. Wie die Werte entstehen, die da so locker vom Hocker verteilt werden, spielt scheinbar für niemanden eine Rolle.

Ist vor allem auch der „Verteilungslinken“ wurscht. Hat die alte Arbeiterbewegung sich sehr intensiv mit der Produktion der Waren, der Entstehung des Wertes und seiner Aneignung durch die KapitalistInnen (Moment der Ausbeutung), den Produktionsverhältnisse beschäftigt, will man bei Ersteren von der Produktion gar nicht mehr reden und „nur noch die Verteilungsfrage in den Mittelpunkt stellen“. Man verteilt nicht nur die Sau, die man noch nicht gefangen hat, man verteilt sogar die Sau, die noch nicht einmal geboren wurde. Letztlich verteilen auch sie nur Werte, die von der ArbeiterInnenklasse hart erarbeitet wurden und auf die sie keinen Anspruch haben. Mit dieser Einstellung kann sie besonders bei der ArbeiterInnenschaft „punkten“, denen mindestens instinktiv klar ist, wer die Zeche bezahlen wird.

Mit dem vorangegangenen ist nicht gesagt, dass die Linke keine realpolitischen Forderungen aufstellen kann. Natürlich kann auch die Verteilungsfrage thematisiert und die bestehenden Ungerechtigkeiten kritisiert werden. Zudem: Wir alle leben eben derzeit im Kapitalismus und es ist existenziell wichtig, dass unser Löhne steigen, Wohnungen bezahlbar bleiben und ein funktionierendes Gesundheitssystem besteht. All diese Rechte und Ansprüche wurden von der ArbeiterInnenklasse in harten Kämpfen erfochten und diese Kämpfe haben nach wie vor ihre Notwendigkeit und ihre Berechtigung, aber mindestens eine revolutionäre Linke muss über das bestehende System visionär hinausweisen. Erst wenn die ArbeiterInnenklasse die Herrschaft über die Produktionsmittel erkämpft hat, wird ernsthaft über die gerechte Verteilung der erarbeiteten Güter diskutiert werden können. Ende der Durchsage.

Wie der Wert entsteht

„Eine Ware hat Wert, weil sie Kristallisation menschlicher Arbeit ist“

Karl Marx „Lohn, Preis und Profit“

„Der Wert der Waren besagt nichts weiter, als dass die Herstellung dieser Dinge Verausgabung menschlicher Arbeitskraft gekostet hat…“

Johann Most „Kapital und Arbeit“

Leider muss an dieser Stelle mit einer linken Lebenslüge aufgeräumt werden, die mancheN bis ins Mark hinein erschüttern wird: Vor der Konsumtion kommt die Produktion. Bevor man Werte (Waren) verteilen kann, müssen sie erst einmal produziert werden. Und Alle sollten wissen, dass die einzige Quelle des Wertes menschliche Arbeit ist („Der Wert der Ware wird durch den Arbeitsprozess geschaffen…“ vergl. hierzu Karl Marx das Kapital 1. Bd. Kapitel 1-3). Es sind also die Arbeiterinnen und Arbeiter, die alle Werte erwirtschaften. Nicht der Staat, denn er ist nur eine abstrakte Konstruktion, der zwar Werte weiterverteilen kann, die er sich über Steuern oder sonstige Abgaben angeeignet hat, der aber keine Werte schaffen kann. Das tun auch nicht die KapitalistInnen, die ja nicht produktiv arbeiten und nur Werte (Kapital > Geld > tote Arbeit) ansammeln, die sie durch einen Prozess der Ausbeutung erlangt haben.

Man kann den Staat zu gerechterer Verteilung seiner Einnahmen auffordern, man kann die KapitalistInnen enteignen und das Geraubte der ArbeiterInnenklasse zurückgeben, neuer Wert wird aber dadurch nicht geschaffen. Man kann einen Supermarkt auch nur einmal plündern, wie die Berliner GenossInnen feststellen mussten, die am 1. Mai den Bolle-Markt am Kotti mitgeplündert und angezündet haben und sich am nächsten Tag wunderten, dass sie ihr Bier künftig aus 2 km Entfernung anschleppen mussten, weil der Bolle-Markt am Kotti nie wieder aufgemacht hat.

Die Forderungen an „Vater Staat“ und selbst die nach der Enteignung der KapitalistInnen setzt die Wertschaffung und weiter die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse durch die KapitalistInnen voraus.

So wie jetzt, wo manche ihr Heil in einer zunehmenden Verschuldung sehen und mit der Bazooka (Scholz) Kohle raus schießen, um die Coronakrise zu bekämpfen, wäre einer Produktionskrise schwer beizukommen. Nur durch Gelddrucken werden noch lange keine realen Werte geschaffen. Dadurch gibt es keinen Tisch und keinen Stuhl mehr auf der Welt. Die Finanzwirtschaft wird dadurch nur noch weiter von der Realwirtschaft entkoppelt. Derlei Maßnahmen sind wie Feuer mit Benzin zu bekämpfen.

Diese einfache Wahrheit, von Marx bis ins Detail im Kapital ausgeführt und in hunderten von Büchern nachzulesen, können oder wollen auch manche Leute von der hier so titulierten „Verteilungslinken“ nicht verstehen.

Coronakrise

Was hat das alles mit Corona zu tun?

Ganz einfach: Weil sich diese Krise ganz wesentlich von den Finanzkrisen 2001 und 2008 unterscheidet. Während die Finanzkrise in erster Linie tote Arbeit (Geld) vernichtete und die meisten die Auswirkungen erst zeitverzögert und indirekt mitbekamen (Arbeitslosigkeit steigt, Hypotheken können nicht mehr bezahlt werden, Obdachlosigkeit steigt, Sozialkürzungen), kann die Coronakrise, je länger sie dauert, sich zu einer fundamentalen Produktionskrise steigern. Es werden also nicht akkumulierte Werte vernichtet (oft genug nur virtuell existierendes Geld), sondern es wird die Produktion von ganz realen Waren (und damit die Wertschöpfung an sich, sowohl Gebrauchswert als auch Tauschwert) ausgesetzt. (Das eine Finanzkrise auch Auswirkungen auf die Produktion hat und umgekehrt eine Produktionskrise Auswirkungen auf den Finanzmarkt versteht sich von selbst und wird hier nicht weitergehend erläutert)

Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied!

Das werden über kurz oder lang alle sehr direkt zu spüren bekommen. Steigende Preise werden dabei nur das geringste Übel sein.

Die Produktion ist das Primäre. Das wussten alle wirklichen Revolutionäre, also Menschen, die tatsächlich in echten Ländern Revolution gemacht haben. Alle Revolutionäre waren bemüht, die Produktivkräfte zu entwickeln. Denn was nutzt das Versprechen auf eine ohne Unterlass scheinende Sonne, wenn der Schornstein nicht raucht? Deshalb hört sich Lenin in „Staat und Revolution“ auch idealistischer an als später, als er die NÖP verkündet. Deshalb landete die chinesische Partei vom großen Sprung nach vorn über die Kulturrevolution auch bei der sozialistischen Marktwirtschaft. Aber das ist eben der Unterschied, ob man sich im Reich der Freiheit glaubt oder sich im Reich der Notwendigkeit befindet.

Wenn von uns in dieser Krise wieder nichts anderes als motzig vorgetragene Forderungen an das System kommen, werden wir uns erneut der Lächerlichkeit preisgeben.

Und nein! Es reicht nicht, dass „wir uns vielleicht so ´n „bisschen mehr Vernetzen“ sollten um uns „´n bisschen mehr informell auszutauschen“.

Das wird die Linke nicht in die Offensive zu bringen!

Ohne hier gleich die Apokalypse heraufzubeschwören: Je langer die weltweite Krise dauert, umso länger die Produktion von Waren und deren Transport stockt, umso mehr wird die Versorgung mit lebensnotwendigen Waren gefährdet. Mit all den sich daraus ergebenden Folgen.

Denn, noch so eine unangenehme Wahrheit: Die Tomaten im Supermarkt entstehen nicht durch Zellteilung im REWE-Gemüsefach, sie wachsen auch nicht an heimischen Bäumen, nein, sie kommen von ganz weit her und werden von Menschen angebaut, die jetzt vielleicht zuhause sitzen müssen, schon krank oder gar tot sind. Und wenn die Bauern/Bäuerinnen jetzt nicht ihre Saat ausbringen und ihre Setzlinge in den Boden bringen, dann gibt es erst nächstes Jahr wieder frisches Gemüse zu essen. Und für alle Bio-fressenden GrünenwählerInnen: Wenn das weltweit geschieht und zudem überall die Grenzen dicht sind (was derzeit nur für den Personenvekehr gilt), dann gibt es auch keine Quinoasamen oder wie das Zeug heißt und auch keine Flugavocados mehr zu kaufen. Und all das Geld, von dem ihr euch die Rettung erhofft, das könnt ihr euch, wenn´s schlecht läuft, in den Arsch stecken. Es gab Zeiten, auch in Deutschland, da sind die Leute mit dem Rad aufs Land gefahren und haben für einen goldenen Armreif gerade mal zwei Brot und ein Stückchen Wurst gekriegt. Schaut mal in ein Geschichtsbuch. Es gibt auch jetzt Gegenden, da ist das schon vor Corona so gewesen.

Und wer sich jetzt lustig macht über die vielen Freiwilligen aus der Stadt, die aufs Land fahren, um den Bauern und Bäuerinnen zu helfen, die Felder zu bestellen, weil die polnischen und rumänischen ErntehelferInnen hinter der Grenze festsitzen, schauen wir mal, ob die nicht die ersten sind, die die hohen Lebensmittelpreise monieren. Bloß nicht selbst die Hände schmutzig machen.

Aber wir wollen den Teufel nicht gleich an die Wand malen. Noch kann man keine seriösen Aussagen über die Auswirkungen der Krise machen. Vielleicht ist es den Industrieländern tatsächlich möglich mit viel, viel Geld die Folgen der Krise abzumildern. Was aber ist ist mit den Ländern, denen heute schon das Wasser bis zum Halse steht? Länder, die schon vor Corona mit einer Versorgungskrise zu kämpfen hatten? Länder wie Kuba, Venezuela oder Griechenland. Die vom Tourismus abhängig sind, der mit Sicherheit brutal einbrechen wird. Manch eineR der Metropolenlinken wird vielleicht seinen/ihren Urlaub nicht antreten können und ein paar hundert Euro in den Sand setzen, woanders wird es ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben.

So wichtig wie der Klassenkampf in den Metropolen (siehe Corona I) wird die internationale Solidarität sein, um die Folgen der Krise zu bewältigen. Das wird umso schwieriger werden, da gerade auch die unteren Schichten in den Metropolen mit den Auswirkungen der Krise zu kämpfen haben werden. Aber auch das hat Corona gezeigt: Wir sind eine Menschheit, in einer Welt. Die Verflechtungen sind heute zu eng, als dass engstirnige Alleingänge noch sinnvoll sind. Die Katastrophe hat dies schnell deutlich werden lassen. Nix „Deutschland den Deutschen“ oder „America first“.

Diese Solidarität einzufordern und zu leben, ist Aufgabe der Linken und nicht einzustimmen in den Chor derer, die jetzt lauthals ihre Forderungen herausschreien, um für ihr Klientel das Maximale herauszuholen. Dazu müssen wir eigene Ansätze entwickeln und nicht den Staat anbetteln, der sowieso nur maximal als Aufstandsbekämpfungsmittel funktioniert, wenn er Kohle in die Massen pumpt.

Nur wenn wir glaubhafte Alternativen aufzeigen, systemantagonistische Lösungsansätze einbringen, könnten wir es schaffen, über kurz oder lang was zu reißen. Und das massenhaft. Und da sind wir wieder bei den Organisierungsansätzen, die wie eben angeführt, auch international gedacht werden müssen. Wunschdenken?

Vielleicht, aber notwendig.