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Krise & Virus

Corona-Papers III

Das folgende fünfteilige Diskussionspapier wurde am Anfang der Corona-Pandemie innerhalb der Assoziation autonomer Gruppen diskutiert. Dort konnte aber kein Konsens darüber gefunden werden, weswegen wir das Papier nun bei uns veröffentlichen, obwohl ein paar wesentliche Aspekte fehlen. Das größte Manko dürfte die Verkürzung des Papiers auf eine mögliche Produktionskrise sein, die Auswirkungen auf das Finanzsystem finden nur am Rande Erwähnung. Ebenso wird das Spannungsfeld zwischen Reform und Revolution auf zu einfache Weise betrachtet. Dennoch lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Papier, vor allem, weil es sich umfassend mit der Frage von Sicherheit, Ordnung und Freiheit, der faschistischen Gefahr, als auch mit den falschen Vorstellung mancher Verteilungslinker und den Gefahren durch eine Produktionskrise beschäftigt, und dazu einen klaren Standpunkt einnimmt. Wer Positionen zu Detailfragen sucht wird hier nicht fündig werden, vielmehr bietet das Papier klare, allgemeingültige Standpunkte, aus denen sich Erkenntnisse für die Praxis ableiten lassen. Da die Papiere bereits älter sind haben wir diese, wo nötig, aktualisiert.

Teil I bleibt allgemein, während es in Teil II explizit um Fragen von Verteilung (von Werten) und Reform geht. Teil III und IV beschäftigen sich noch einmal ausführlich mit den Themen Sicherheit, Ordnung, Freiheit und den Einschränkungen der Grundrechte. Zum Schluss behandelt Teil V noch einmal die Gefahr die von einer Produktionskrise ausgeht, aber auch die Chancen für den Klassenkampf von unten.

Kritiken, Anmerkungen und Beschimpfungen können wie immer gerne an info@autonomie-magazin.org geschickt werden.

Euer Autonomie Magazin


Die Freiheit, die ich meine

Die derzeitige Coronakrise ist mit massiven Einschränkungen auf allen Ebenen verbunden. Fast das gesamte gesellschaftlichen Leben stand/steht still. Weltweit sehen sich fast alle Staaten gezwungen, drastische Maßnahmen gegen das grassierende Coronavirus zu ergreifen und so auch die persönlichen Freiheiten jedes/r Einzelnen extrem einzuschränken. Darüber hinaus wird durch Schließung der Grenzen, Einschränkung der Transportwege und Drosselung bis Stilllegung ganzer Produktionszweige auch die neoliberale, globalisierte Weltwirtschaft in einer Weise beschränkt, wie man es sich noch vor einiger Zeit kaum hätte vorstellen können. Selbst die KapitalistInnen, die ansonsten für den Profit über Leichen gehen, scheinen sich dem Diktat der medizinischen ExpertInnen zu beugen, auch wenn durch diese Maßnahmen ein wirtschaftlicher Einbruch droht, dessen Folgen derzeit nicht abzusehen sind.

Natürlich gibt es auch andere Stimmen, wie die von FDP-Hinterbänklern, die bei Ausbruch der Krankheit die Maßnahmen der chinesischen Regierung scharf kritisierten, indem sie die bürgerlichen Freiheitsrechte und die Informationspflicht anmahnten und zudem die Gelegenheit nutzten, das „diktatorische, kommunistische Regime“ zu verurteilen, nicht ohne den Hinweis, dass derlei Maßnahmen bei uns „im freien Westen“ undenkbar wären. Außer eben ca. vier Wochen später.

Vorgeprescht in Sachen Freiheitsrecht ist auch die nimmermüde Nervensäge Vera Lengsfeld mit ihrer Online-Petition, die die Aufhebung der Notfallmaßnahmen fordert. Sekundiert ausgerechnet vom ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, dem man seine Verteidigung der Freiheit als extremen Rechtsaußen ja unbedingt abnimmt.

Was Vera Lengsfeld unter Freiheit versteht, ist aus ihrer Biographie ersichtlich. Schon als DDR-Bürgerrechtlerin, als auch als Mitglied der letzten gewählten Volkskammer der DDR, spielte sie eine unsägliche Rolle. Nach einem Intermezzo bei den Grünen landete sich letztlich bei der CDU. Freiheit statt Sozialismus halt.

Und natürlich marschiert auch eine Melange aus VerschwörungstheoretikerInnen, ImpfgegnerInnen, ReichsbürgerInnen, EsoterikerInnen und Neonazis auf, die ausgerechnet „Freiheitsrechte“ und „Grundrechte“ einfordern (siehe Corona II).

Ungeachtet dessen stellt die Coronakrise an uns alle die Frage, wie wir zu den Freiheitsrechten stehen, angesichts einer Situation, die in ihrer Dramatik für die meisten ohne Erfahrungswert ist. Bürgerliche Freiheiten bedeuten zur Zeit nicht zuletzt auch die Freiheit mit 220 km/h über die Autobahn zu brettern („Freie Fahrt für freie Bürger“), die Umwelt zu verschmutzen und selbstverständlich die „Vertragsfreiheit“, welche die ArbeiterInnen und die KapitalistInnen de jure als freie und gleiche Vertragspartner erscheinen lässt, de facto aber hemmungslose Ausbeutung sichert. Bürgerliche Freiheit bedeutet eben auch, seine Freiheit über die der anderen zu stellen und seinen MitbürgerInnen gegebenenfalls gehörig auf den Sack zu gehen, wie es die Welle an Denunziationen im Zuge der Pandemie wiedereinmal zeigt.

Und es stellt sich zudem die Frage, inwieweit auch wir als Linke beeinflusst sind von den Vorstellungen dessen, was das Bürgertum unter Freiheit versteht, denn tatsächlich fußen unsere Vorstellungen weitgehendst in der Tradition der europäischen Aufklärung, deren Kind ein Karl Marx ebenso ist wie ein Thomas Hobbes oder ein Marquise de Sade. Letzterer legte seine Definition der persönlichen Freiheitsrechte bekanntermaßen soweit aus, dass er die der Anderen erheblich einschränkte – immer vorausgesetzt die Machtmittel zu haben, dies auch durchzusetzen zu können. De Sade endete seinerseits im Kerker, viele unserer Neoliberalen sitzen heute noch in Aufsichtsräten.

Dabei redet die Aufklärung als solche nicht der hemmungslosen Freiheit das Wort.

Für Kant beispielsweise standen der menschliche Verstand und die Freiheit des Willens im Zentrum seines Denkens. Kant ging es darum, ein Moralgesetz aufzustellen, das allein der menschlichen Vernunft standhält. Dazu entwickelte Kant den „kategorischen Imperativ“, dessen erste Formel bekanntermaßen lautet: „Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Schon hier wird auf den gesellschaftlichen Charakter der Freiheit hingewiesen.

Die zweite, jedoch so nicht verabschiedete Fassung der Französischen Nationalversammlung von 1793 fasst diesen Gedanken folgendermaßen zusammen:

„Die Freiheit ist die Vollmacht, die jedem Menschen alles zugesteht, was den Rechten des anderen nicht schadet; ihre Grundlagen hat sie in der Natur, ihre Richtschnur in der Gerechtigkeit, ihren Schutz im Gesetz, ihre moralische Grenze im Grundsatz: Tue keinem das an, was du nicht dir selber zugefügt haben willst.“

Sprich vereinfacht:

„Was du nicht willst was man dir tu`, das füg auch keinem andern zu.“

Diese Freiheit des Willens, die Vernunft soll eben den Zustand vorbeugen, dass „der Mensch des Menschen Wolf ist“ und ein „Krieg Aller gegen Alle“ (Hobbes), die bürgerlichen Neoliberalen nennen das die „freie Konkurrenz“, zur gesellschaftlichen Norm erhoben wird.

Dem bourgeoisen Freiheitsbegriff der freien Konkurrenz diametral gegenübergesetzt ist der Freiheitsbegriff des Sozialismus, der weiß, dass solange noch ein Mensch in Ketten lebt, die Freiheit aller nicht gewährleistet ist. Freiheit ist also immer auch kollektiv gedacht und nicht individuell egoistisch. Heißt, dass „die Freiheit des Einzelnen die Bedingung der Freiheit aller ist.“ (Karl Marx). Das impliziert, dass die Freiheit des einen da endet, wo die des anderen anfängt.

Deshalb tun sich die so viel gescholtene chinesische Regierung (wie auch die anderen asiatischen Regierungen allgemein) auch leichter bei der Akzeptanz der eigenen Bevölkerung zu den gegenwärtigen Maßnahmen, weil sie nicht nur eine erfolgreiche sozialistische Revolution aufweisen, sondern darüber hinaus auch auf eine Jahrtausende alte konfuzianische Tradition aufbauen kann (wobei sie letzteres sicher nicht so gerne hören möchte), die eben die Bedeutung der Harmonie der Gesamtgesellschaft in den Vordergrund stellt. Der Begriff der Freiheit wird dort komplett anders definiert als in Ländern mit europäischer Denktradition. Das ist eine feststehende Tatsache, die im eurozentristischen Denken oft vergessen wird, mag man dies nun positiv bewerten oder nicht.

Aber auch hierzulande tragen die meisten Menschen die einschränkenden Verordnungen zum allergrößten Teil mit. Ist es der deutsche Kadavergehorsam, den Manche zu wittern meinen oder die Vernunft, die angesichts der gegenwärtigen Situation keine gangbare Alternative möglich erscheinen lässt. Alle Regierungen, so unterschiedlich sie sich auch sonst gebärden, treffen in der derzeitigen Situation ähnliche Vorkehrungen. Freiheitseinschränkende Maßnahmen wie Reisebeschränkungen, Grenzschließungen, Quarantäne und Kontaktverbote sind rund um den Globus, mit diversen Variationen, überall gleichermaßen erlassen worden.

Freiheitsliebende Menschen werden dadurch auf eine harte Probe gestellt. Scheinbar gibt es dazu keine vernünftigen Alternativen. Wie so oft regiert das „Reich der Notwendigkeit“ über das „Reich der Freiheit“, „stirbt Freiheit durch Sicherheit“.

In diesem Fall – in diesem speziellen Fall (!) – scheint es tatsächlich notwendig, um der Sicherheit (Gesundheit) willen die Freiheit einzuschränken. Wer könnte jetzt eine wirkliche, verantwortungsvolle, andere Vorgehensweise vorschlagen. In diesem Fall (!) hat niemand eine andere Lösung parat als die von den wissenschaftlichen ExpertInnen vorgeschlagene. Diese sehen derzeit nicht im Ruf um irgendwelcher Ränkeschmiede willen Panik zu schüren (wobei das RKI, als Staatsinstitut mit Vorsicht zu genießen ist), sondern werden von den allermeisten gesellschaftlichen Gruppen als meinungsführend anerkannt. Von Links bis Rechts, von ein paar VerschwörungstheoretikerInnen, und natürlich Vera Lengsfeld, abgesehen, befolgen alle, wenn auch in Einzelmaßnahmen kritisch begleitet, die von den MedizinerInnen gegebenen Ratschläge. Auch wenn immer offensichtlicher wird, dass vor allem die ArbeiterInnen und Kleingewerbetreibenden den Einschränkungen unterworfen werden, um die Kapitalverwertung großer Konzerne zu schützen.

So richtig viele der durchgeführten Maßnahmen in diesem Fall auch sein mögen, Misstrauen gegen den Staat ist notwendig. Auch wenn zum aktuellen Stand der gesundheitlichen Krise kein großer Handlungsspielraum zu bestehen scheint. (Selbst die KapitalistInnen haben die Produktion und Konsumtion so runter gefahren, dass sie praktisch fast zum Stillstand kam und das machen „die“ nicht aus Jux und Tollerei.) Wir dürfen nicht einfach der Versuchung erliegen, dem Ruf nach „bürgerlichen Freiheiten“ zu erliegen. Das was der bürgerliche Mainstream unter „Freiheit“ versteht, kann durchaus gemeingefährliche Auswüchse annehmen, wie eingangs gezeigt wurde. Deshalb kann es im Gegenteil notwendig werden, auf die Einhaltung der Beschränkungen hinsichtlich der Produktion zu bestehen, um die Sicherheit der Gesundheit der ArbeiterInnenklasse nicht zu gefährden. Der Klassenkampf zieht sich durch alle Fragen.

Nach der medizinischen Krise jedoch wird sich zeigen, wer die Suppe ökonomisch auslöffeln muss (nicht schwer zu erraten).

Dann beginnt nämlich erst die eigentliche Krise. Nach der gesundheitlichen Krise könnte mit zunehmender Zeitdauer eine ernstzunehmende Produktionskrise entstehen, die anders als die vergangenen Finanzkrisen, die Realwirtschaft direkt mit voller Wucht treffen wird.

Die Folgen einer Produktionskrise sind für die Bevölkerung in der Regel nach ziemlich kurzer Zeit direkt durch Verknappung der Waren zu spüren.

Die Auswirkungen der Produktionskrise und der nachfolgenden Finanzkrise werden uns je nachdem wie sie sich entwickeln noch die nächsten Jahre beschäftigen. Unter dem Gesichtspunkt wird weniger vom Reich der Freiheit als mehr von Reich der Notwendigkeit die Rede sein.