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Antifa-Roman

3 | Der Mann aus Afrika I

Celeste blickt auf das Bild in ihrer Hand. Es verschwimmt. Der Tränenschleier nimmt ihr die Sicht.

Die Zeugin auf dem Stuhl am anderen Ende des Saales im Landgericht Wiesbaden antwortet selbstsicher und mit nach vorn gerichtetem Blick: „Er hat einfach nur dagesessen und mit seinem Smartphone gespielt.“

Es ist mucksmäuschenstill. Jeder sieht, dass sich die Szene vor ihrem inneren Auge abspielt. Ein Anwalt läuft vor ihr hin und her.

„Mir liegen Aussagen vor, dass er den Mittelfinger gezeigt hat.“

Die Frau antwortet wie in Trance, sie erlebt den Mord gerade noch einmal.

„Nein, er hat das Auto …“

„Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie als Zeugin nicht lügen dürfen!“

Die Frau schreckt auf. Der Anwalt hat sie aus ihrer Erinnerung gerissen. Sie blickt irritiert zum Richter. Der schüttelt den Kopf.

„In ihrem Land darf man doch auch nicht lügen!“

„Ich bin in Niedersachsen geboren!“

„Ach ja, stimmt.“ Der Richter blättert abwesend in den Akten. „Entschuldigen Sie bitte. Niedersachsen natürlich, da steht es ja …, Hannover.“

„Also, nicht lügen!“, ermahnt sie der Anwalt trotzdem noch einmal mit überheblichem Lächeln.

„Er hat niemandem den Mittelfinger gezeigt. Er hat das Auto nicht einmal bemerkt.“

„Liebe Zeugin, das können Sie nicht wissen, das ist Ihre Vermutung. Bleiben Sie bitte bei den Fakten!“

Der Rechtsanwalt dreht sich zu ihr um, stützt die Arme auf seinen Tisch und schaut ihr direkt in die Augen.

„Und vergessen Sie nicht, Frau Aslan, nicht lügen!“

Er grinst die Zeugin mit der dunklen Haut und den schwarzen Haaren arrogant an.

Sie hält seinem Blick stand und sagt: „Er hat nicht einmal aufgeschaut!“

„Das ist kein Beweis.“

Der schwarze Stoff seiner Robe wallt dem Advokaten um die Beine, als er wieder auf und ab läuft. Sein Finger zeigt zur Eichenholzdecke, während er doziert.

„Er hat es hören und so wahrgenommen haben können. Hören ist nämlich ein ebensolcher Sinn wie Sehen oder Schmecken. Verstehen Sie?!“

Er dreht sich erneut zu ihr um.

„Das wissen Sie doch? Sie sind doch nicht dumm. Nicht wahr?! Nicht aufschauen ist ergo kein Beweis für fehlende Wahrnehmung.“

Der Richter nickt unterstützend, ebenso der Staatsanwalt.

„Was geschah dann“, fragt der Anwalt weiter, „und bitte schildern sie nur, was sie wirklich sahen! Keine Spekulationen. Keine Unwahrheiten. Sie sind Zeugin und können vereidigt werden.“

Die Frau setzt sich aufrecht hin und spannt die Schultern. Sie ist Anfang 20.

„Das Auto hielt und die vier Nazis stiegen aus.“

„Nazis? Diese Frau ist voller Vorurteile und als Zeugin eigentlich untauglich!“ Der Anwalt schüttelt den Kopf. „Wie sollen wir da jemals herausfinden, was wirklich passiert ist, wenn diese Dame immer nur spekuliert? Ich bin da wirklich ratlos meine Herren“, presst er mit gespielter Hilflosigkeit hervor und schaut erneut zum Richtertisch.

„Woher wollen Sie denn wissen, dass es Nazis waren?“, mischt sich der Staatsanwalt ein. „Bleiben Sie bitte bei den Fakten. Schildern Sie, was Sie sahen, nicht was Sie assoziieren oder denken!“

„Sie sahen aus wie Nazis. Sie trugen schwarze Kapuzenpullover mit Aufschriften in altdeutscher Schrift. Auf einem prangte in schwarz-weiß-rot ein Eisernes Kreuz.“

„Das ist wieder eine Spekulation, dass jemand in diesem Outfit ein Nazi ist …“

Die Zeugin unterbricht den Advokaten. Mühsam beherrscht sie sich.

„Ich bin in einem Vorort von Hannover aufgewachsen. Dort wissen alle, wie Nazis aussehen. Wer nicht arisch wirkte, wurde regelmäßig von ihnen angepöbelt. Wenn sie schon auf dem Weg in den Kindergarten an solchen hasserfüllten Typen vorbei müssen, die sie beschimpfen und beleidigen, dann können sie die irgendwann sogar riechen. Glauben sie mir das!“

„Sie sind Türkin, nicht wahr?“, fragt der Anwalt süffisant.

„Nein, ich bin Deutsche.“

„Aber keine echte, sondern eine zugewanderte.“

„Diese Bemerkung tut nichts zur Sache“, ruft der Richter dazwischen. „Weiter.“

„Sie glauben also zu wissen, wie Nazis aussehen. Wenn das alle wissen, es also Allgemeingut bei denen ist, die, sagen wir mal, nicht schon immer in diesem schönen Land leben, wieso wusste das dann der Herr Storfile auf der Bank nicht? Der war ja immerhin noch dunkler als sie, er war total dunkel, er war schwarz. Wie nennt man diese Menschen? Neger darf man wohl nicht mehr sagen heutzutage … Aber was wäre denn korrekt?“

Er sieht die Zeugin fragend an und dann in die Runde. Er simuliert Ratlosigkeit, doch sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Er verachtet die Zeugin aus tiefstem Herzen.

Celeste schaut im Zuschauerraum auf das Bild in ihrer Hand.

Er nennt ihn Neger. Alle nennen uns Neger.

Eine Träne fällt auf das Foto des Mannes mit der schwarzen Haut.

Dieser Blick. Er sieht mich so lieb an. So hat er mich immer angeschaut. Das war sein Gesicht: offen, ehrlich und warm. Seine Augen sagen immer noch, dass er mich liebte. Er hat mir vorgelesen, wenn ich traurig war. Er hat mich getröstet, wenn ich hingefallen bin. Und er kannte so schöne Lieder. Alle mochten es, wenn er sang. Seine Worte brachten uns die ferne Heimat wieder nah. Seine Stimme gab uns Hoffnung.

Celeste schluchzt. Sie kann die Tränen nicht stoppen.

„Bitte mäßigen Sie Ihre Wortwahl“, ermahnt der Richter den Anwalt erneut.

„Entschuldigung“, heuchelt der Gescholtene. „Es tut mir leid.“ Dann schaut er lächelnd zu der Zeugin. „Es wird sicher nicht wieder vorkommen. Ich bin nur mitunter etwas unsicher bei meiner Wortwahl. Ich weiß manchmal wirklich nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Nochmals Entschuldigung, wenn ich irgendeinen Ausländer beleidigt habe!“

Die Frau sieht ihn versteinert an. Sie weiß, dass er sie provozieren will. Aber sie ist die Einzige, die sah, was an der Bushaltestelle passierte. Sie darf sich als Zeugin nicht so weit bringen lassen, dass sie unglaubwürdig wird. Oder gar als vom Hass Getriebene dargestellt werden kann. Denn genau darauf will der Verteidiger hinaus.

Ihre Augen wandern zu den Zuschauerbänken. Sie sieht das weinende Mädchen mit der schwarzen Haut und den geflochtenen Zöpfen. Ihr Blick ist nach unten gerichtet, auf das Bild in ihrer Hand.

Er war mein Schutzengel. Mein Vater hat meine Hand gehalten auf diesem Schiff mit den Soldaten. Auf Lampedusa erfuhren wir, dass nur noch wir übrig sind. Die anderen waren ertrunken, meine Mutter, meine beiden Brüder und die kleine Melina. Irgendwo im Mittelmeer. Dann tauchte meine Cousine Adjoa Tage später plötzlich auf. Allein. Wir drei sind die einzigen Überlebenden von 24 aus unserer Familie, die vor zwei JahrenJahre aufbrachen.

Celeste erinnert sich mit Schaudern an diese Zeit, die sie schließlich in ein Flüchtlingsheim nach Wiesbaden führte. Mutter und Geschwister vermisst sie bis heute. Sie lebte mit ihrer Cousine und ihrem Vater in einem Zimmer in einem völlig überfüllten Haus in der Mainzer Straße.

Er war immer so gut zu uns. Adjoa und ich liebten Papa. Er war sanftmütig und voller Herz. Auf seinen Knien schaukelten wir stundenlang. Er tröstet uns, wenn die anderen Flüchtlinge in der Küche wieder stritten. Er hat uns immer beschützt. Er war der Einzige, auf den wir uns verlassen konnten. Jetzt ist er tot.