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Antifa-Roman

7 | Der Mann aus Afrika II

„Also“, sagt der Anwalt, „ich fasse nochmal zusammen. Dieser Herr Storfile saß auf der Bank der Bushaltestelle und spielte mit einem Smartphone. Seinem, sofern es nicht geklaut war. Was sollte er auch sonst tun, denn er arbeitet ja nichts.“

Er macht eine theatralische Pause und fährt fort: „Ein Auto hielt und vier Herren stiegen aus. Sie behaupten, dass dieser Herr Storfile, wir nehmen mal an, dass das überhaupt sein richtiger Name ist, also dieser schwarze Mann, so nennt man ja heutzutage Menschen aus Afrika, hat das nicht bemerkt. Richtig?“

„Ja, er blickte nicht auf. Er reagierte nicht auf das Auto,“ antwortet die Zeugin. „Ich konnte keinerlei Reaktion erkennen.“

„Aber meinen Sie nicht, es wäre eigentlich normal, aufzuschauen, wenn ein Auto vor einem hält? Also ich würde ja mal hinsehen, wenn so ein Auto vor meiner Nase auftauchen würde.“

„Er trug Ohrhörer. Vermutlich hörte er Musik. Vielleicht reagierte er deswegen nicht.“

„Ziemlich viele Vermutungen für eine Augenzeugin, Frau Aslan.“

Kadriye Aslan bleibt stumm. Sie reagiert auf die erneute Provokation nicht. Sie weiß, wer der Verteidiger ist: Werner Nahrad, seinerzeit bundesweit als Nazi bekannt, ehemaliger Aktivist der Wiking Jugend und der NPD. Seit Jahren als Rechtsanwalt im juristischen Einsatz für die Naziszene.

„Wir halten dann vorläufig einmal fest, dass sich dieser Schwarzafrikaner untypisch verhielt. Jedenfalls irgendwie unnormal im Vergleich mit uns Weißen. Es reagierte, sagen wir mal, befremdlich.“

Nahrad macht eine kurze Kunstpause und richtet sich dann übertrieben in Richtung Zuschauerraum.

Celeste sitzt dort und weint. Ihre Augen treffen sich. Der Anwalt grinst das schwarzhäutige Mädchen überheblich an, bevor er sich wieder der Zeugin widmet.

„War dieser Herr Storfile, wie er hier genannt wird, also war dieser Afrikaner vielleicht betrunken? Oder stand er gar unter Drogen? Das wäre ja nicht untypisch für Leute wie ihn. Auf dem schwarzen Kontinent herrschen ja völlig andere Regeln als bei uns. Und wir wissen ja, dass es viele von ihnen als normal ansehen, hier mit Drogen zu handeln …“

Bevor der Richter reagieren kann, brüllt Celeste: „Er hasste Drogen. Er war Moslem und hat niemals Alkohol getrunken!“

Nahrad sieht sie triumphierend an.

Es hat funktioniert. Ich habe Dir weh getan. Und ich habe Dir sogar gerne weh getan!

„Bitte Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!“ Der Richter schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Beherrschen Sie sich bitte!“

Rechtsanwalt Nahrad strahlt und zwinkert Celeste zu. Zum Richter sagt er: „Sehen Sie, diese Menschen vom schwarzen Kontinent sind anders als wir. Eher emotional und unkontrolliert. Fast triebgesteuert.“

„Herr Nahrad, es reicht. Fahren Sie mit der Befragung der Zeugin fort. Und mäßigen Sie sich!“

Der Advokat entschuldigt sich und wendet sich erneut an die Zeugin.

„Können Sie ausschließen“, fragt er mit leiser Stimme, „dass dieser Mann alkoholisiert war oder unter Drogen stand? Und falls Sie das bejahen, begründen Sie es doch bitte auch gleich.“

„Ich habe keine Blutentnahme gemacht. Aber er wirkte nicht berauscht.“

„Vielen Schwerstalkoholikern oder Drogenabhängigen merkt man ihre Sucht ja nicht an, man erkennt nicht auf Anhieb, ob sie unter Drogen- oder Alkoholeinfluss stehen. Ich muss dann also annehmen, dass es nicht auszuschließen ist. Es könnte also sein.“

Kadriye Aslan sagt nichts. Sie weiß, dass diese Möglichkeit nun im Raum steht. Unwidersprochen. Von eben auf jetzt wird aus einem harmlos herumsitzenden Mann ein möglicherweise Betrunkener oder gar Drogenabhängiger.

„Was passierte dann?“, fragt Nahrad weiter.

„Die vier aus dem PKW liefen auf ihn zu und blieben vor ihm stehen.“

„Aber dann bemerkte er die Herren doch? Oder noch immer nicht?“, stichelt der Anwalt.

Die Zeugin lässt sich nicht beirren.

„Er schaute auf. Sein Gesicht zeigte Entsetzen.“

„Das konnten Sie sehen, aus zehn Metern Entfernung?“, unterbricht sie der Verteidiger. Er schaut die Zeugin eindringlich an. „Ich glaube ihnen nicht.“

Er zeigt in den Zuschauerraum. „Sagen Sie mir doch einmal, welche Augenfarbe der Herr in der Reihe ganz hinten links hat, der ganz außen.“

„Herr Nahrad, es reicht jetzt wirklich.“ Der Richter fährt ihn an: „Befragen Sie die Zeugin jetzt weiter, oder ich unterbreche die Verhandlung.“

„Entschuldigung, nur bei offensichtlichen Unwahrheiten kann ich mich immer schlecht beherrschen. Da ähnel‘ ich mit meiner Emotionalität wohl den Afrikanern. Oder den Südländern.“

„Herr Nahrad, letzte Ermahnung.“ Der Richter blickt zur Zeugin. „Bitte fahren Sie fort. Was geschah dann an der Bushaltestelle?“

„Der Vordere brüllte irgendwas. Ich konnte es nicht genau verstehen. Dann holte er mit dem linken Arm aus und schlug dem Mann auf der Bank mit voller Wucht von der Seite ins Gesicht. Der fiel von der Bank. Er schrie nicht einmal, er fiel einfach herunter.“

„War er tot?“, fragt der Rechtsanwalt.

„Das weiß ich nicht, das wäre Spekulation.“

„Aha, Sie haben gelernt. Wie sahen denn die vier Herren aus.“

„So wie beschrieben. Alle gleich. Außerdem waren sie mit Motorradhauben vermummt und trugen Handschuhe.“

„Sie haben also keinen erkannt?“

„Nein.“

„Konnten Sie etwas Besonderes erkennen? Einen Aufnäher auf der Jacke, oder so?“

„Der, der zugeschlagen hatte, trug kurze Hosen. So eine Art Militärhose, die bis über die Knie gehen, mit aufgesetzten Taschen und in gefleckter Tarnfarbe.“

„So laufen viele Männer herum.“

„Er hatte aber eine Besonderheit. Auf seiner Wade sah ich ein Gesicht mit Stahlhelm. Doch erst als ich genauer hinsah, identifizierte ich das Gesicht als Totenkopf. Es war ein Totenkopf mit Stahlhelm.“

„Liebe Zeugin“, setzte Nahrad in gespielt väterlichem Ton an, „Sie erzählen uns hier gerade, dass Sie sahen, wie ein möglicherweise Betrunkener oder mit Drogen vollgepumpter schwarzer Mann von der Bank kippt. Vielleicht, weil er einen Herzinfarkt erlitt. Zuvor soll er angeblich von einem Herrn geschlagen worden sein, der aus einem Auto ausstieg und vermummt war. Das ist alles schwer zu glauben. Kann es nicht sein, dass die vier nach dem Weg fragten und der schwarze Mann vielleicht einfach wegen seines Alkoholkonsums von der Bank gefallen ist, oder möglicherweise wegen der Drogen in seiner Blutbahn?“

Er macht eine kurze Pause.

„Oder weil er sich erschreckt hat, als in seinem Drogentraum plötzlich vier Herren vor ihm auftauchen …“

„Herr Nahrad“, unterbricht ihn der Richter, „die Obduktion hat keinerlei Hinweise auf Alkohol oder Drogen ergeben. Unterlassen Sie bitte diese Unterstellungen. Weiter bitte Frau Aslan, was geschah dann?“

„Moment, dann möchte ich noch einmal anders fragen“, mischt sich Nahrad erneut ein. „Da wird vor Ihren Augen ein Mann geschlagen, der Ihnen irgendwie nah steht, weil er ja ebenfalls kein Deutscher ist, zumindest nach den herrschenden optischen Eindrücken, und außerdem tragen sie ja noch diese Naziproblematik als Trauma aus ihrer Kindheit in sich herum, was sie ja zusätzlich mit diesem Schwarzafrikaner verbindet, also Sie bilden so eine Art tief verbundene Schicksalsgemeinschaft …“

Nahrad macht erneut eine Pause, um seine willkürliche Gedankenkonstruktion wirken zu lassen.

„… also während ihr Bruder im Geiste und im Herzen, dieser Herr Storfile, grundlos geschlagen wird und von der Bank kippt, und vielleicht tot ist, dabei schauen Sie auf die Wade des vermeintlichen Angreifers?“

Kurze Pause.

„Ist das Ihr Ernst? Glauben Sie das denn selbst, was sie da sagen?“

Die Zeugin bleibt äußerlich ruhig, doch in ihr bebt es.

„Der Täter hat sein rechtes Bein gehoben. Er trug schwere Schuhe. Damit trat er mit vollem Gewicht auf den Kopf des am Boden Liegenden. Ich habe es knacken gehört! Deshalb weiß ich, was für eine Tätowierung der Mann auf seinem Bein trug.“

Celeste hält es nicht mehr aus. Ihr Schluchzen zerreißt die Stille. Sie presst das Bild von ihrem Vater an die Brust und rennt aus dem Saal. Sie will keine Details mehr wissen. Sie erträgt es nicht. Sie will nicht erneut die Bilder sehen. Den zertretenen Kopf. Das Blut. Das herausquellende Gehirn. Die gebrochenen Augenhöhlen.

Die Bilder stehen schon jetzt ständig vor ihr. In ihren Träumen. In ihren Erinnerungen. Sie kann sie nicht verjagen. Sie kann sie nicht vergessen. Sie sieht sie in der Schule, an der Bushaltestelle, im Flüchtlingsheim.

Weinend läuft sie aus dem Gerichtsgebäude. Sie hat ihn geliebt, ihren Vater, diesen einzigen Erwachsenen, dem sie vertrauen konnte.

Und nun ist er nicht mehr da. Weg. Getötet. Einfach so. An einer Bushaltestelle in Wiesbaden. Und nur diese tapfere Frau hat sich als Zeugin gemeldet und muss sich nun beleidigen lassen.

Ich kenne Dich nicht, Kadriye Aslan, aber ich danke dir, denkt Celeste. Bitte halte durch! Niemand sonst hat etwas gesehen. Nur du. Und du bist so mutig. Danke! Danke! Und nochmals Danke!