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Antifa-Roman

8 | Marlene reicht es

„Der Herr Weitzel wird sich so schnell wie möglich darum kümmern. Gerade eben haben wir über das Problem gesprochen. Auch mir liegt es sehr am Herzen, dass solche Nazisprüche unsere Schulwände nicht verunzieren. So zeigen wir den Schmierfinken, dass wir uns wehren und ihnen keine Chance geben!“

Das habe ich gut gesagt, denkt der Direktor zufrieden. Damit ist die Sache wohl erledigt.

„Bitte sagen Sie uns doch genau, wann genau Herr Weitzel die Beleidigungen zu übermalen gedenkt“, insistiert Vera. Dabei lächelt sie ihn falsch an und klimpert übertrieben mit den Augenlidern.

Verarschen kann ich mich allein, Millner.

„Jetzt übertreiben Sie mal nicht, junge Dame. Von Beleidigungen kann ja nun wirklich keine Rede sein. Es wird doch niemand direkt angegriffen!“

„Es wird doch niemand direkt angegriffen“, äfft Marlene Herrn Millner lautstark nach. „Na dann ist ja alles gut“, zischt sie in seine Richtung.

Alle starren sie verblüfft an. Marlene ist trotz ihres Temperaments eine eher unauffällige Mitschülerin. Jetzt erleben sie, dass in der gebürtigen Italienerin ein Vulkan ruht, der auf seinen Ausbruch wartet. Direktor Millner hat scheinbar den richtigen Knopf gedrückt. Marlene stützt sich mit beiden Armen auf den wuchtigen Schreibtisch. Ihr Respekt gegenüber Autoritäten ist wie weggewischt. „Wenn dort gefordert wird, dass alle Ausländer abhauen sollen, dann ist das sehr wohl eine Beleidigung. Sie sollen abhauen, weil sie den falschen Pass haben, die falsche Hautfarbe oder die falsche Sprache sprechen. Rassismus ist immer eine Beleidigung!“

Millner reißt die Augen auf und versucht, die Fassung zu wahren.

Da legt sich doch dieses Gör halb auf meinen Schreibtisch und spricht in diesem Ton mit mir. Ich bin der Direktor! Niemand darf so mit mir sprechen! Und schon gar nicht eine Schülerin. Meine gute Laune wird mir zum Verhängnis. Verdammt noch mal! Die machen mich langsam wütend, die Schüler hier in meinem Büro. Ich will meine Ruhe. Ungezogenes Pack. Nie wieder werde ich eine ganze Gruppe in mein Büro lassen. Das schwöre ich! Doch ich versuche es jetzt noch einmal mit der netten Tour. Laut werden kann ich ja immer noch.

Mit einem so gutmütigen Ton wie gerade möglich antwortet er Marlene: „Aber dich betrifft das doch gar nicht. Warum regst du dich denn so auf?“

Marlene hält ihm ihren Arm unter die Nase. „Sehen Sie sich meine Hautfarbe genau an. Finden Sie sie nicht ein bisschen dunkel für eine echte Deutsche? Meine Eltern kommen aus einem kleinen Dorf in Sizilien.“ Aus ihren Augen spritzt tödliche Lava auf den überraschten Direktor.

Er blickt sie erstaunt an. „Aber du bist doch damit nicht gemeint. Außerdem wusste ich gar nicht, dass du Ausländerin bist. Du sprichst doch perfekt Deutsch und besuchst das Gymnasium. Das ist doch alles sehr gut.“

Direktor Millner meint das ernst. Er will seiner ehrlichen Bewunderung Ausdruck verleihen. Wenige Kinder ausländischer Eltern sind so gute Schüler, dass sie in die Oberstufe versetzt werden. Millner ist versucht, ihr die Hand zu tätscheln für diese außergewöhnliche Leistung. Aber das lässt er instinktiv dann doch besser.

In Marlene sammelt sich die glühende Wut zu einer finalen Eruption. Ihre Augen funkeln. Sie faucht den Direktor an: „Oh nein, ich bin keine Ausländerin. Jedenfalls nicht per Definition. Ich habe einen deutschen Pass. Aber ich bin viel zu dunkel für eine Arierin, wenn es nach diesen Naziärschen geht. Für die bin ich allerdings immer Ausländerin, auch wenn ich in Wirklichkeit Deutsche bin, stolze Besitzerin des wertvollsten aller Dokumente: der deutschen Staatsbürgerschaft. Geburtsort: Wiesbaden. Abstammung: Undeutsch! Vielleicht würde ich ja im Ernstfall nicht deportiert, denn ich habe ja einen deutschen Pass. Es träfe also nur meine Eltern, mit denen ich seit 16 Jahren in einem Wohnblock im Assoviertel Schelmengraben wohne. Zwischen Deutschrussen, Polen, Portugiesen, Ukrainern, Syrern, Türken und wasweißichwas. Nur die würden dann eben abgeholt, meine Freundinnen, Schulkameraden und Nachbarn. Da bin ich aber froh, dass es nur die anderen trifft.“

Sie schaut Millner durchdringend an. Der ist sprachlos. Wie ausgeschäumt sitzt er hinter seinem Schreibtisch und schweigt hilflos. Gegen Marlenes brennenden Regen aus glühenden Vulkanbrocken hat er keine Chance.

„Eigentlich haben Sie ja sogar Recht. Meine Wurzeln sind italienisch. Und weil viele Deutsche so denken wie Sie, bleibe ich wohl immer Ausländerin. Egal, ob ich einen Pass besitze oder nicht. Also beleidigt mich diese Nazi-Scheiße an der Wand sogar persönlich. Und selbst wenn Sie wegen meines Passes nun plötzlich der Meinung sind, ich sei doch Deutsche, gehört dieser Dreck so schnell wie möglich übertüncht. Und nicht erst, wenn Mister Chefsklave-Hausmeister mal gerade nichts anderes zu tun hat.“

Sie macht eine Pause. Bevor Millner etwas sagen kann, spricht sie weiter. „Vermutlich würde der Hausmeister schon lange den Pinsel schwingen, wenn dort stände: Millner ist ein Arschloch!“

Onkel Millner verschwindet. Hervor tritt der beleidigte Direktor der Leibnizschule Wiesbaden, der sich schlagartig an seine Macht als Schuloberhaupt erinnert. Die Schockstarre ist überwunden.

„Was fällt dir eigentlich ein, mich hier so anzugreifen? Und geh von meinem Schreibtisch herunter, was glaubst du eigentlich, wo du bist und wen du hier vor dir hast?“, brüllt er.

Marlene tritt sofort einen Schritt zurück. Sie ist über sich selbst erschrocken.

Ich habe den Direktor beleidigt. Das wird Folgen haben. Wenn ich von der Schule fliege, bricht meine Mutter heulend zusammen. Meine Schwester Isabella und ich sind die Einzigen in der Familie, die so weit in der Schule gekommen sind. Wir sind die Hoffnung meiner Eltern. „Unsere harte Arbeit in Deutschland muss doch für irgendwas gut gewesen sein …“ Mit diesem verfluchten Satz sind wir aufgewachsen. Das hören wir schon unser Leben lang. Seit sie vor 40 Jahren das Dorf Barrafranca im Herzen Siziliens verlassen haben und nach Deutschland gegangen sind. Hier lagen die Hoffnungen auf ein besseres Leben.

Marlenes Gedanken rasen.

Vater arbeitete im Lager einer Zementfabrik. Seine Lunge ist nur noch ein schwerer Klumpen Dreck, voll mit grauem Staub aus der Produktion. Sie leistet nur noch 45 Prozent. COPD. Für die Treppen in den zweiten Stock zu unserer Wohnung benötigt er mittlerweile 20 Minuten. Und meine Mutter geht putzen, von abends bis spät in die Nacht.

Marlene ist entsetzt über ihre Worte. Über das, was sie hier im Büro des Direktors möglicherweise angerichtet hat. Sie hat Angst.

Für meine Eltern hat sich die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht erfüllt. Das sagen sie uns immer wieder. Aber ich, Marlene, soll eine Chance bekommen und es einmal besser haben. Ich soll den Sumpf der Armut verlassen. Seit ich in die fünfte Klasse, ins Gymnasium gekommen bin, vergeht fast kein Tag, ohne dass mir meine Eltern sagten, dass sie nur noch für meine Ausbildung arbeiten. Und jetzt stehe ich hier und setze wegen den Scheiß-Nazi-Parolen alles aufs Spiel.

Marlene geht noch weiter zurück und versteckt sich hinter den anderen. Sie zittert.

„Tut mir leid“, flüstert sie kleinlaut.

Direktor Millner ist von Marlenes Zurückweichen ermuntert. Er riecht ihre Panik. Aus der Angst anderer speist sich seine Macht.

Oberwasser riechend setzt er seinen Angriff fort. „So, und nun alle raus hier. Wenn irgendwer in Zukunft was von mir will, dann immer nur zu zweit. Keine Massenaufmärsche mehr. Mit so einem Pulk kann man doch nicht reden!“

Er geht um den Schreibtisch herum auf die Gruppe zu. Die Schüler weichen zurück. Nur Vera bewegt sich keinen Millimeter. „Sie sind mir noch eine Antwort schuldig“, entgegnet sie ruhig. „Wann genau kommen die Schmierereien denn nun weg?“

Millner ist perplex. Seine Machtdemonstration ist an dieser Schülerin einfach abgeprallt wie eine Billardkugel an der Bande.

„Das System von Herrschaft endet da, wo die Angst die Beherrschten nicht mehr abschreckt“, hat er vor langer Zeit einmal irgendwo gelesen. Das schmale Mädchen aus der zehnten Klasse blickt ihm gerade ins Gesicht. Sie hat keine Angst. Eine einfache Frage hat sie ihm gestellt und verlangt nun eine Antwort. In Sekundenbruchteilen kippt Vera das uralte Verhältnis der Unterwerfung. Millner fühlt sich plötzlich sehr müde. Er antwortet kraftlos: „Der Hausmeister wird es die Tage erledigen.“

Vera ist damit nicht zufrieden: „Das muss heute geschehen!“

Die anderen pflichten ihr bei. Sie haben wieder Mut geschöpft. Sie sehen die Schwäche des Direktors. Millner schaut sie an. Er will nur noch eins: sein Büro wieder für sich. Genervt gibt er dem Drängen nach und ruft Hausmeister Weitzel an.

„Wann genau machen Sie die Parolen weg?“

Es stellt sich heraus, dass der Hausmeister überhaupt noch keine Idee hat, wann er sich um die Schmierereien kümmern wird. „Sie hatten mir doch gesagt, dass alles andere wichtiger ist. Ich soll doch zuerst die Blumen pflanzen, wegen dem Eindruck nach außen und so.“

Millner bittet ihn, sich möglichst heute darum zu kümmern. Weitzel zählt auf, warum das unmöglich ist. „Nach den Beeten muss ich die Briefkästen im Lehrerzimmer reparieren, die sind schon lange überfällig. Dann muss ich die Sicherungskästen in der Sporthalle überprüfen, da geht es schließlich um die Sicherheit der Schüler. Nicht das uns die Bude noch abfackelt. Und um 16 Uhr habe ich Feierabend. Vor dem Wochenende komme ich keinesfalls dazu.“

Es ist Mittwoch.

Millner wiederholt seine Bitte nach zügiger Erledigung. Vor ihm steht eine Gruppe nerviger Schüler. Am Telefon macht ihm der Hausmeister deutlich, dass sich schon Lehrer wegen der kaputten Briefkästen beschwert hätten. Auf Millners Schreibtisch liegen bereits zwei Beschwerdezettel:

Ich bitte erneut um die zügige(!) Reparatur meines Briefkastens im Lehrerzimmer. Gez. OStRin Astrid Fülldorf-Neudecker.

Ein paar aufgebrachte Pädagogen würden ihm jetzt gerade noch fehlen. Matt wiederholt Millner die Bitte nach schnellstmöglicher Übermalung zum dritten Mal und legt auf.

Gleich wird er seine Ruhe haben.

Stattdessen steht nun ein hochgewachsenes Mädchen vor seinem Schreibtisch. Petra sieht ihn an. Ihre Angst verschwindet immer dann, wenn sie sich einer Sache absolut sicher ist. „Laut Organigramm unserer Schule ist der Hausmeister ein Angestellter. Er ist der Schulleitung untergeordnet und weisungsgebunden. Das schien mir gerade eben aber nicht so, als ob hier die Befehlswege eindeutig geklärt sind.“

Jetzt reicht es Millner. Eine Zurechtweisung durch eine Schülerin wegen meines Stils als Vorgesetzter? Was fällt der ein? Dumm nur, dass sie Recht hat.

Elena mischt sich erstmals ein. Sie hat auch genug: „Wer ist hier eigentlich der Chef? Der Hausmeister oder Sie? Uns soll also zugemutet werden, diesen Dreck noch so lange zu lesen, bis der Herr Hausmeister Zeit zum Überpinseln hat?“

Petra übernimmt, bevor Elena dem Direktor an den Kragen geht. Ist sie einmal in Fahrt, verliert sie leicht die Kontrolle. Petra hingegen denkt konstruktiv und lösungsorientiert – bis ihre Angst wieder Oberhand gewinnt. Davon ist allerdings gerade nichts zu spüren. „Wir haben einen sinnvollen und machbaren Vorschlag, der Sie des Geplänkels mit Herrn Weitzel enthebt. Also: Die Schule bezahlt Farbe und Pinsel. Wir übermalen die Schmierereien in unserer Freizeit kostenfrei. Wir besorgen sogar die Materialien und rechnen mit den Quittungen mit Ihnen ab.“

„Also soll ich jetzt dafür aufkommen, was irgendwelche verirrten Jugendlichen angerichtet haben? Mein Gott, spielt es denn so eine große Rolle, wann unsere Schule wieder ordentlich aussieht?“

„Es geht nicht um die Schönheit unserer Schule“, herrscht Marc ihn an. „Es geht um die Entfernung rassistischer Parolen. So schwer kann das doch nicht zu verstehen sein.“

Elena stemmt die Arme in die Seite: „Geben Sie uns jetzt Geld für die Farbe, oder nicht?“

Der Direktor hat sich wieder einigermaßen gefasst. Ich muss dem Spuk ein Ende bereiten! „Für derlei Dinge ist der Hausmeister zuständig und nicht ich. Es gibt kein Geld, und der Hausmeister muss selbst entscheiden, welche Arbeitsprioritäten er hat.“

Vera dreht sich auf dem Absatz um und geht. Sie legt ihren Arm um die immer noch irritierte Marlene. Und zieht sie aus dem Raum. Die anderen folgen den beiden. Stefan verabschiedet sich mit den Worten: „Danke, Herr Direktor. Wir haben verstanden!“

Als die sechs Schüler zurück über den Schulhof laufen, hat die Pause bereits begonnen. Die Rechten lungern auf ‚ihrem Platz‘ herum. Marc beäugt sie argwöhnisch. Die Gruppe besteht aus etwa einem Dutzend Jugendlicher, darunter ein Junge, den Marc von früher kennt: Jochen, sein bester Freund in der Grundschule. Wiesbaden ist ein Dorf, denkt Marc, man trifft sich immer wieder. Jochen hatte mit seiner Mutter direkt im Wohnblock nebenan gelebt. Sein Vater zog aus, bevor Jochen seinen dritten Geburtstag feierte. Die gesamte Grundschulzeit saßen Marc und Jochen nebeneinander. Vier Jahre gingen sie den gleichen Schulweg und bekamen die gleichen Strafarbeiten.

Marc schielt hinüber zu seinem Freund aus Kindertagen. Er steht mit dem Rücken zu ihm und hält eine Zigarette in der Hand. Sein Körperbau ist groß und dünn, er wirkt kränklich und ausgemergelt.

Wieso hängst du eigentlich immer mit diesen Typen auf dem Schulhof ab? Was findest du da? Bist du einer von ihnen? Wirst du auch eines Tages Nazi? Oder bist du schon einer? Warst du eventuell sogar mit deinen Freunden letzte Nacht hier sprayen? Sind die Parolen vielleicht sogar deine Idee? Denkst du diese Nazi-Scheiße am Ende sogar selbst?

Marc kann die gemeinsame Zeit nicht ignorieren. Er hatte Jochen immer gemocht. Bis heute begegnen sie sich nicht als Feinde. Sie haben sich nur aus den Augen verloren. Niemand kennt ihre gemeinsame Vergangenheit. Sehen sie sich heute zufällig auf der Straße, nicken sie sich kurz zu.

Jochen spielte bisher keine offensichtliche Rolle in der rechten Gruppe. Seinen Klamotten zeigen, dass seine Mutter nicht viel Geld nach Hause bringt. Er wirkt leicht heruntergekommen, das Sweatshirt ist ausgewaschen, die Jeans unmodern, die Turnschuhe von Aldi. Jochen steht mitten in der pöbelnden Gruppe. Aber er scheint teilnahmslos, außen vor. Fast wie ein Fremdkörper. Abwesend. Er steht nur da und raucht.

Bevor Marc sich weiter wehmütig an die gemeinsame Zeit mit Jochen erinnern kann, schiebt Stefan ihn sanft Richtung Schulgebäude.

Die restlichen Schulstunden bringen die sechs Schüler mehr schlecht als recht hinter sich. Die sechs wissen jetzt, dass die Parolen nicht von alleine oder durch den Hausmeister verschwinden werden. Sie hören dem Unterricht nur am Rande zu. Sie werden die Nazischmierereien selbst übermalen müssen – oder sie akzeptieren.

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