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Antifa-Roman

17 | Der Schock

„Wie siehst du denn aus?“, fragt Vera, als sie Stefan die Tür öffnet.

„Gasangriff von Nazis!“

„Was?“ Vera ist sichtlich erschüttert. „Echt jetzt?“

Stefan tritt in den Flur. Er ist verdreckt, der Ellenbogen verletzt, die Augen knallrot.

„Sehe ich aus, als ob ich scherze?“

„Scheiße, ich hab‘ es ja gewusst!“ Petra ist kalkweiß. In ihrem Gesicht steht die Angst. Ihre Stimme klingt schrill. „Jetzt machen sie uns fertig!“

Vera dreht sich zu Petra um.

„Dreh jetzt mal nicht gleich durch“, herrscht sie sie an. „Komm wieder runter!“

„So wird es uns allen ergehen“, schreit Petra hysterisch. „Wir müssen sofort zur Polizei gehen. Die bringen uns um.“

„Hey Petra. Stefan ist hier das Opfer. Nimm dich mal zurück“, schnauzt Marlene sie an.

„Ich wasch mich kurz im Bad und erzähle euch dann alles“, sagt Stefan gefasst.

„Habt ihr das gesehen?“ Petra zündet sich eine neue Kippe an. Im Aschenbecher glimmen noch zwei. „Den haben sie übel zugerichtet. Was, meint ihr, machen die mit uns?“

„Hör auf Petra!“ Marlene reißt sich nur mit Mühe zusammen.

„Ich gehe allein zur Polizei! Ich ruf die jetzt an. Ich verlasse das Haus nicht mehr. Ich drehe noch durch!“

„Petra, noch ein Wort, und ich geb‘ dir eine Ohrfeige.“ Marlene ist wild entschlossen. Petra merkt es. Sie schweigt. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Zitternd zieht sie an ihrer Zigarette. Elena legt ihren Arm um sie.

„Jetzt beruhig‘ dich doch wieder. Noch leben wir doch alle!“

„Ja, noch“, schluchzt Petra. „Aber wer weiß, wie lange noch.“

Ziemlich durchnässt lässt sich Stefan auf das Sofa fallen. Er nimmt sich eine Tasse Kakao und erzählt. In der Runde herrscht betretenes Schweigen.

Marlene hat ihn mütterlich in den Arm genommen. Wieder lehnt sein Kopf an ihrer Schulter. Sie drückt ihn an sich wie ein kleines Kind. Dann laufen ihm die Tränen.

„Ich könnte die umbringen“, sagt er mit erstickter Stimme. „Diese hinterhältigen Arschlöcher, dieses miese Pack.“

Dann erzählt er vom Tränengas, dem Sturz und seiner Angst, blind zu sein. Vom Herumkriechen auf dem Waldboden, dem Zurückkehren seiner Denkfähigkeit und dem Postmann mit Wasserflasche. Immer wieder muss er sich Tränen abwischen. Marc reicht ihm ein Tempo. „Hier mein Freund, trockne deine Tränen. Dein Schmerz ist mein Schmerz. Ich bleibe an deiner Seite. Ich lass dich nicht allein.“

„Wir lassen dich alle nicht allein,“ ergänzt Elena.

„Wir halten zusammen“, ergänzt Vera.

„Und nun?“, fragt Petra verzweifelt. Ihre Stimme überschlägt sich. „Gehen wir zur Polizei?“

Stefan richtet sich auf. Er schaut Marc an, dann in die anderen. Lautstark schnäuzt er in das Taschentuch.

„Ihr seid echte Freunde“, sagt er gerührt. „Danke. Aber wir haben nicht viele Möglichkeiten.“

Dann wischt er die letzte Träne weg. Er ist wieder der Alte.

„Wir können nur zurückschlagen“, sagt er. „Wir machen sie platt.“

„Hast du noch nicht genug?“, brüllt Petra mit zitternder Stimme. „Du bist doch irre!“

„Beruhige dich!“ Elena geht sie scharf an. „Stefan, du weißt genau, wie viele die sind und wie viele wir. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen. Wir sind doch keine Jugendgang, die sich ihren Platz im Schulhof freihauen will. Und wir könnten das auch gar nicht.“

„Ja, aber wir können das doch nicht so stehen lassen!“

„Da hat Stefan recht. Das geht nicht“, stimmt Marc ihm zu.

„Das Problem ist doch vielschichtiger. Wir haben sie in ihren Augen provoziert, mit der Übermalaktion. Jetzt wollen sie uns zeigen, wer der Herr auf dem Schulhof ist. Aber um was geht es uns denn dabei? Wollen wir die Herren des Schulhofs sein? Mir geht’s nur um ihren Nazischeiß. Um das, was die tun und wollen“, sagt Elena. „Die Lufthoheit auf dem Hof ist mir völlig egal, das ist Mackerscheiße.“

„Stimmt.“ Marlene wirkt nachdenklich. „Erinnert euch, was Vera zum Direktor gesagt hat? Ausländerfeindlichkeit. Das ist es doch, wogegen wir uns gewehrt haben. Und das müssen wir auch deutlich machen. Das ist dann doch eher eine Frage des Denkens, unserer Haltung und unserer Meinung. Also was wir nicht wollen, dass es in der Schule passiert. Vielleicht sollten wir das mal besprechen.“

„Mir brennen noch die Augen und du willst über Ausländerfeindlichkeit reden?“

„Chill‘ mal“, sagt Vera ruhig „Du bist doch sonst nicht so. Wir können die nicht verprügeln. Noch nicht. Aus dem einfachen Grund, weil wir zu wenige sind. Um die zu verhauen, müssen wir mehr werden. Aber das passiert eben nicht von eben auf jetzt.“

„Aber wie können wir mehr werden?“, fragt Elena. „Das ist doch die Frage. Ich bin durchaus dafür, den Naziärschen entgegenzutreten. Aber nur, wenn wir auch gewinnen können!“

„Außerdem versteht den ganzen Konflikt doch sowieso keiner“, wirft Marc ein. „Niemand weiß, wer die Parolen gemalt hat und wer sie wieder weggemacht hat. Und wenn sich irgendwer nach der Schule kloppt, dann interessiert das auch keinen. Wir müssen unsere Mitschüler auf das Problem aufmerksam machen und auf unsere Seite ziehen. Das ist der Punkt.“

„Schön gesprochen, aber wie stellst du dir das denn konkret vor?“ Petra meint diese Frage sehr ernst. Sie wirkt wieder gefasst und dreht sich eine neue Zigarette.

„Ich weiß es nicht“, antwortet Marc. „Ich weiß im Moment nur, dass wir auf der Hut sein müssen.“

„Danke für diesen hilfreichen Hinweis“, sagt Stefan. „Da wäre ich ja nie drauf gekommen!“

Alle ignorieren ihn.

Vera schaltet sich ein. „Hier geht es doch nicht um einen Streit um ein Territorium, sondern um die Frage, wie man die Welt sieht. Die sind anders als wir. Die geben ständig an mit irgendwas, pumpen sich die Muskeln mit Pulver und Fitnessstudio auf und pöbeln gegen Ausländer, Frauen sind für die Bitches. Wir sind so nicht. Wir wollen doch irgendwie eine andere Welt als die. Uns interessieren doch diese Dinge von denen gar nicht: aufgemotzte Mopeds, dicker Bizeps und Schlägereien beim Fußball. Uns geht das doch auf den Wecker.“

Die anderen nicken.

„Erinnert ihr euch an den Nachmittag mit Annette, als sie von Kurdistan und so erzählt hat?“, fragt Marc. „Die Nazis wollen solche Leute hier nicht haben, die wegen politischer oder materieller Not flüchten. Die wollen nicht, dass andere Menschen hier Zuflucht finden. Mitleid und Menschlichkeit sind für die Schwäche und Gutmenschentum. Die glauben an das Recht des Stärkeren. Hinter ihrer Einstellung steckt doch noch viel mehr.“

Er macht eine Pause.

„Es geht darum, was man für eine Welt will. Die stehen für Ellenbogengesellschaft und den ganzen Konkurrenzscheiß, alle gegen alle. Ich persönlich will so was übrigens nicht. Mich nervt das. Ich finde miteinander und füreinander irgendwie schöner. So wie zwischen uns sechs.“

Veras Blick ruht auf ihrem neuen Freund. Seine Logik imponiert ihr. Die letzte Nacht fällt ihr ein. Seine Hände auf ihrem Körper … Sie zwingt sich, diese schöne Erinnerung für später aufzuheben. Jetzt müssen sie zu einem Ergebnis kommen. Aber welchem?

„Mit meiner Mutter war ich mal auf einer Demo gegen die AfD und so Querdenkertypen. Da waren auch Antifas aus Wiesbaden. Vielleicht können die uns weiterhelfen?“, schlägt sie vor.

„Als ich neulich auf dieser Veranstaltung im Hilde-Müller-Haus war, wegen diesen NSU-Terroristen, da gab es auch welche. Alte und junge. Da könnte man mal nachfragen“, schlägt Marc vor. „Aber die wirkten auch unnahbar. Ich hätte die nicht angesprochen.“

Elena hat ihr Smartphone in der Hand und googelt. „Hmmm. Unter Antifa Wiesbaden finde ich zwar Webseiten, aber die sind alle schon lange nicht mehr aktualisiert worden. Die Einträge sind alle mindestens ein Jahr alt. Scheint mir wenig vertrauensvoll.“

„Vielleicht kennt meine Mutter ja jemanden?“, sagt Vera. „Ich kann sie später mal fragen.“

Petra zieht an ihrer Kippe. „Ich mache mir wirklich Sorgen. Vielleicht erwischt es schon morgen jemand anderes als Stefan“, sagt sie. Sie gibt sich alle Mühe, nicht ängstlich zu wirken. Die anderen merken es trotzdem. Aber der Versuch zählt. Dafür schätzen sie ihre kettenrauchende Freundin.

„Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht.“ Stefan spricht ruhig. „Ich habe sie provoziert, als ich auf sie zuging. Ich glaube, damit habe ich mich fürs Erste zu ihrem Hauptfeind gemacht. Aber ich kann mich wehren.“

„Darf ich mal was anderes fragen?“, sagt Elena. „Marc hat irgendwie recht mit dem, was er gesagt hat. Aber mir will das alles nicht in den Schädel. Was wollen die Nazis denn überhaupt? Die wollen doch nicht etwa wieder KZs und Juden vergasen? Wie kann man denn überhaupt ein Drittes Reich wollen? Oder Leute wegen ihres Aussehens zusammenschlagen? Mir will das alles nicht in den Kopf.“ Elena wirkt hilflos. „Wie kann man denn überhaupt so denken? Kann mir jemand das mal erklären? Hat man denen ins Gehirn geschissen? Irgendwie fehlt mir da ein Zugang. Wie kann ich denn einem fremden Menschen überhaupt etwas Schlechtes wollen? Warum wollen die denn die Ausländer raus haben?“

„Lass uns vielleicht da mal in Ruhe drüber reden“ sagt Marc.

„Ja, erstmal müssen wir jetzt überlegen, wie wir uns am Montag verhalten. Ganz konkret. Im Moment ist der Hintergrund doch nicht so wichtig“, ergänzt Stefan. „Ich betone: im Moment. Elenas Fragen gehen mir auch durch den Kopf. Aber Montag müssen wir handeln. Montag wollen die nämlich wissen, was wir tun. Sie haben mich angegriffen. Jetzt sind wir dran. Also, was machen wir?“

„Nichts“, antwortet Petra. „Gar nichts. Wir machen einfach nichts. Tun so, als ob nichts vorgefallen wäre.“

Petra lehnt sich zurück. Sie ist stolz auf sich. Sie hat das nicht aus Angst gesagt, sondern weil sie es wirklich glaubt.

„Ich stimme Petra zu“, sagt Marc. „Aber wir wirken dann wie Opfer.“

„Sind wir ja auch. Die sind stärker. So sieht es gerade aus. Ganz einfach. Wir können nichts machen. Manche Dinge sind unangenehm, aber unabänderlich“, antwortet Vera.

Marc schaut sie verdutzt an. Mit einer solchen, rein vernünftigen, Reaktion hätte er von ihr nicht gerechnet.

Es klopft an der Zimmertür.

„Komm rein, es ist offen“, ruft Vera. Ihre Mutter erscheint im Türrahmen.

„Hallo! Na, tagt hier das Komitee gegen Nazisprüche an Schulwänden?“, lacht sie in die Runde. „Ich bin nur kurz heimgekommen, um etwas zu holen …“

Vera unterbricht sie. „Kennst du Antifas?“

„Was?“

„Kennst du Antifaschisten? Leute, die uns helfen könnten?“

„Helfen bei was?“

„Setz dich doch mal zu uns.“

„Aber nicht lange. Ich muss wieder in die Schneiderei.“

Sie setzt sich neben Stefan. Vera erzählt ihrer Mutter kurz von dem Überfall auf Stefan. Annettes Blick wandert nervös zwischen dem Rothaarigen und ihrer Tochter hin und her. Dann antwortet sie: „Das ist eine harte Geschichte. Ja, ich kenne Antifaschisten. Ihr kennt sie auch: Mîrhat und seine Leute.“

„Aber das sind doch Kurden.“

„Ja und? Meinst Du, in der Türkei gibt es keine Faschisten?“

„Aber Türken sind doch selbst Ausländer. Wie können die denn auch Faschisten sein?“, fragt Elena irritiert.

„Faschisten gibt es überall! Die türkischen Faschisten sind gegen Ausländer in der Türkei. Die deutschen Faschisten sind gegen Ausländer in Deutschland“, erklärt Annette. „Faschismus ist eine Ideologie, die Menschen Wertigkeiten zuordnet: Herrenmensch und Untermensch. Der Türke gilt in Deutschland als minderwertig. Der Kurde in der Türkei. In Israel sind es Araber.“

Petra fragt erstaunt: „Faschisten in Israel? Wie können Juden Nazis sein?“ Sie ist völlig durcheinander.

„Nazis können die Juden nicht sein. Nazis sind deutsche Faschisten. Das kommt eigentlich von Nationalsozialisten. Die waren gegen Juden. Die italienischen Faschisten aber beispielsweise nicht“, erklärt Veras Mutter weiter. Die Jugendlichen hängen an ihren Lippen. „Faschismus lebt von der Abwertung anderer Völker. Außerdem kämpft er gegen fortschrittliche Ideen wie Demokratie, Kommunismus oder Sozialismus. Dazu steht er für den absoluten Leistungsgedanken: Wer nicht mithält, muss sterben, so wie Behinderte oder mental benachteiligte Menschen. Faschisten streben die absolute Konkurrenz an und unterstützen den Kapitalismus. Toleranz, Mitbestimmung, Solidarität, Gleichberechtigung, Freiheit, Gleichheit, Gewerkschaften, Demokratie usw. bekämpfen sie mit allen Mitteln. Faschismus meint immer die Ausrottung anderer Ideen und der Menschen, die sich zu diesen Ideen bekennen. Die IS-Typen, diese Islamisten in Syrien und im Irak beispielsweise, sind für mich ebenfalls faschistisch.“

Sie schaut in sechs fragende Augenpaare.

„Okay, sorry, das war jetzt vielleicht ein bisschen viel auf einmal.“

„Nein, nein, erzähl ruhig weiter“, bittet Marc.

„Ich will ja nicht meckern, und ich könnte dir stundenlang zuhören“, sagt Stefan. „Aber wir müssen besprechen, was wir am Montag machen.“

„Ich muss auch weiter.“ Annette steht auf. „Fragt Mîrhat, der kann euch viel über Faschismus erzählen.“

Die Schüler sehen sich schweigend an.

„Wenn ihr mal mit ihm sprechen möchtet, Samstagnachmittag ist er im Café in der Wellritzstraße.“

„Sollen wir da nicht mal hin?“, fragt Marc.

„Ich bin dabei“, sagt Stefan.

Alle wollen mit. „Ich sage ihm Bescheid“, und damit verschwindet Veras Mutter.

„Sag mal Vera“, beginnt Elena, „woher weiß deine Mutter das alles?“

„Meine Mutter war früher politisch ziemlich aktiv. Gegen die Startbahn West, Atomkraftwerke und Aufrüstung. Sie wurde sogar verhaftet und kannte welche von der RAF. Da kamen ja einige aus Wiesbaden.“

„Von wem?“, will Marlene wissen.

„Von der Roten Armee Fraktion. Die haben früher Bomben gelegt und Verantwortliche erschossen“, erklärt Vera. „Die gibt es aber nicht mehr. Die meisten saßen jahrzehntelang im Knast.“

Nach einer kurzen Pause fragt Petra: „Habe ich das richtig verstanden, dass wir Montag einfach nichts machen?“

„Ja“, antwortet Marc. „Aber ich könnte kotzen.“

„Frag mich mal“, sagt Stefan.

„Ihr schafft das. Wir helfen euch!“ Mit diesen Worten erhebt sich Marlene. „Ich muss jetzt auch weg. Wir sehen uns Samstag.“

Schließlich verabschieden sich alle. Nur Marc bleibt auch diese Nacht bei Vera.