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Antifa-Roman

18 | René III

Gegenaufklärungstraining nennt es René. Verfolger erkennen und abhängen. An diesem Samstag ist Marlene dabei. Er will ihr die Grundlagen konspirativen Handelns beibringen. Sie stehen am Wiesbadener Bahnhof und lösen ein Tagesticket. René zahlt bar. Regel Nummer 1. zahle immer bar. Nutze nie eine Kreditkarte oder gar das Smartphone zum Zahlen.

„Wenn du dir den Bahnhof genau ansiehst, fallen dir die Kameras auf. Sie sind überall. In einem Bahnhof kannst du kaum etwas Unbemerktes tun.“

Marlene hat darauf noch nie geachtet.

„Hast du dein Smartphone dabei?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Gut.“ Marlene hat sich an diese Regel gehalten. Kein Smartphone beim Auschecken von Orten, bei der Observation von Personen, bei geheimen Treffen von Genossen oder Genossinnen oder bei Aktionen.

Sie steigen in die S1 Richtung Frankfurt.

„Beobachte deine Umgebung. Versuche, dir unauffällig Gesichter einzuprägen. Sortiere unverdächtige Menschen aus.“

Er macht eine Pause.

„Sag mir, wen du für unverdächtig hältst.“

„Die Oma da hinten.“

„Okay.“

„Die Frau mit den Kindern. Die beiden Frauen mit den Kopftüchern.“

„Warum?“

„Sie tragen Einkaufstaschen.“

„Okay.“

„Ist dir unser Telefongespräch noch in Erinnerung?“

„Ja, wir mussten so tun, als ob wir in den Zoo gehen.“

„Hat Dich genervt, oder?“

„Ja. Für so was bin ich doch zu alt.“

„Na gut, vielleicht. Aber eine legale Story ist immer wichtig. Da könnten wir einen Code draus machen.“

„Wie das denn?“

„Wenn wir uns anrufen, und der eine sagt, dass er mal wieder in den Zoo gehen will, könnte das heißen, dass wir uns sofort treffen müssen. Nur mal so als Beispiel.“

„Aha.“

„Hier steigen wir aus.“

„In Mainz-Kastel?“

„Hier gibt es ein nettes Café am Bahnhof.“

Gemächlich schlendern sie zu einem freien Tisch und setzen sich. René bestellt einen Espresso, Marlene eine Cola. Nach ihnen betritt niemand mehr den Laden, bis sie wieder gehen.

„Ins Café kam niemand Verdächtiges. Lass uns ein Stück zu Fuß gehen, über die Theodor-Heuss-Brücke.“

Sie laufen los und überqueren den Rhein.

„Und immer schön die Augen offen halten, ob uns jemand begleitet. Aber unauffällig!“

Er lehnt sich aufs Geländer und zeigt auf die Uferpromenade.

„Siehst du das?“

„René, was soll das?“

„Wir plappern hier stehend irgendwas. Völlig egal was. Aber so sehen wir sofort, ob noch jemand stehen bleibt. So kann man unauffällig schauen, was um einen passiert.“

Als sie auf der Mainzer Seite eine Bushaltestelle passieren, sagt René: „In den nächsten Bus springen wir rein, egal welchen.“

„Okay“, flüstert Marlene.

„Ist dir jemand aufgefallen?“

„Nur der Mann da hinten, mit der blauen Daunenweste.“

„Gut, mir auch. Mal sehen, was er jetzt macht.“

„Da kommt einer.“

Sie steigen spontan ein. Der Mann in der blauen Weste schaut nicht einmal auf. Aber er hätte auch keine Chance gehabt.

„Wenn ein Verfolger merkt, dass du ihn abhängen willst, ist das schlecht. Er darf nie etwas merken. Brachiales Abhängen ist immer nur eine Notlösung!“

„Was ist eigentlich mit Drohnen?“, fragt Marlene?

„Um eine mögliche Luftüberwachung auszutricksen, müssen wir am besten zu einem unterirdischen Verkehrsknotenpunkt oder zu einem Einkaufszentrum.“

Im Bus studiert er den mitgeführten Plan des Rhein-Main-Gebiets. Er will wieder in eine S-Bahn. In der Innenstadt steigen sie aus und betreten ein Kaufhaus.

„Jetzt schnell wieder raus und rein in das nächste.“

„Sag mal, ist das immer so anstrengend?“

„Sicherheit hat ihren Preis.“

Unterwegs kaufen sie billige Klamotten: farbige Jacken, Mützen. Sonnenbrillen und Schals.

„Eine Drohne hat es schwer, uns von oben mit wechselndem Aussehen im Menschengewusel zu erkennen. Für die Kameras in Bussen, Bahnen und in Bahnhöfen können auch noch Brillen helfen. Auch die Gesichtssoftware soll es nicht so leicht haben.“

Marlene fühlt sich wie an Fastnacht.

Hoffentlich sieht mich hier keiner aus meiner Schule …

René ist das egal. Er ist voll in seinem Element. Im Café eines Kaufhauses machen sie eine kurze Rast. Marlene isst eine Nussecke, René trinkt nur etwas.

„Wir trennen uns jetzt. Du fährst mit dem Bus und ich laufe. Spätestens dann kommt eine Drohne nicht mehr mit.“

Marlene nickt. Die rosafarbene Baseballkappe rutscht ihr vom Kopf.

„So ein blödes Ding.“

„Ist ja nur für kurz. Wir treffen uns so schnell wie möglich im Parkhaus am Ausgang zum Bahnhof „Römisches Theater“. Bleib aber so stehen, dass man dich von oben nicht sieht. Zu Fuß bin ich langsamer. Präg‘ dir die Leute ein. Alles klar?“

„Alles klar.“

„Dann los.“

Das Treffen nach 20 Minuten klappt perfekt. René hat im Parkhaus gewartet. Er hat zwei neue Kappen in anderen Farben gekauft. Sie ziehen sie an. „Eine weitere Verwirrung für Verfolger und Drohnen“, erklärt er. Er schaut auf seine Uhr. Sie warten. Dann ist es so weit. Kurz vor Einfahrt der S8 schnappt er Marlenes Hand. Sie laufen los und springen in die S-Bahn.

„Ist dir was aufgefallen?“

„Nein, nichts.“

„Mir auch nicht. Du kapierst schnell, gute Sache.“

In Rüsselsheim steigen sie bei den Opelwerken erneut aus. Die Überdachung macht sie für Drohnen unsichtbar. Aber es gibt überall Kameras.

„Halte den Kopf gesenkt. Wir stellen uns jetzt so nah vor den Fahrplan wie möglich, und tun so, als ob wir falsch ausgestiegen sind.“

René fährt mit dem Finger auf der Scheibe vor dem Fahrplan hin und her.

„Wie spät ist es?“

„Elf Uhr.“

„Nur so als Info, warum wir jetzt hier sind. Der Schichtwechsel bei Opel ist gegen fünf Uhr. Die Angestellten im Büro beginnen zwischen 8 Uhr und 9 Uhr 30. Heute natürlich nicht, ist ja Samstag. Also dürfte jetzt eigentlich niemand hier aussteigen. Schau dich um. Was siehst du?“

„Niemanden.“

„Siehst du?“

Er lächelt. Gelernt ist gelernt.

„Auch abends ist hier niemand. Trotzdem hält hier die S-Bahn. Ein guter Platz, um Verfolger abzuchecken. Man könnte auch ein Fahrrad hier deponieren und damit weiterfahren. Zu einer anderen S-Bahn oder einem Bus. Das nur mal als Anregung.“

Den nächsten Zug betreten sie ganz vorne.

„Und warum jetzt hier vorne?“ Marlene hat langsam keine Lust mehr.

„Da können wir uns alle Leute genau ansehen, die am Bahnsteig stehen. Und gegebenenfalls aussteigen. Schau hin. Wen hältst du für verdächtig?“

Marlene schaut sich jede Person genau an und sortiert unverdächtige aus: die Mutter mit Kinderwagen, den Flaschensammler mit Rucksack, die beiden Asiaten mit Fremdenführer, den Typen in Polizeiuniform. Verdächtig bleibt ein Geschäftsmann. Doch der schaut nicht einmal von seiner Zeitung auf, als der Zug einfährt, sondern besteigt ihn routiniert.

„Der Typ da, mit den weißen Turnschuhen. Der blickt angestrengt in den Wagon.“

René beobachtet ihn aus dem Augenwinkel. 45 Jahre, heller Blazer, Plastiktüte.

„Der sucht etwas“, flüstert er. „Den checken wir. Ich steige die nächste aus. Eine später du. Wir treffen uns im Bahnhof Kelsterbach. Der liegt auch auf der Strecke. Wenn du mich siehst, läufst du mir einfach mit Abstand hinterher. Alles klar?“

„Alles klar.“

René drängelt sich nach draußen. Er schafft es knapp. Der Typ ist drin bei Marlene geblieben. Sie schaut teilnahmslos aus dem Fenster.

Cooles Mädchen, denkt René stolz.

In Kelsterbach steigt René aus dem nächsten Zug. Er trägt jetzt eine gelbe Regenjacke. Er wartet an der Treppe. Als Marlene mit dem nächsten Zug eintrifft, dreht er sich um und läuft die Treppe runter. Marlene folgt ihm keuchend. Er geht mit schnellen Schritten zu einem Einkaufszentrum mit Supermärkten, Bäcker und Drogerie, keine 500 Meter entfernt. Marlene kommt kaum hinterher.

An seinem Schlüsselbund hängt seit Jahren eine unauffällige silberne Christophorusplakette. Viele Italiener sind gläubig und tragen solche Maskottchen mit sich herum. Der heilige Christopherus gilt als Beschützer der Reisenden. Renés Plakette ist auf der Rückseite spiegelblank poliert. Damit hat er Marlene die ganze Zeit im Blick. Aber niemand folgt ihr. Sie ist allein. Er lässt sie aufschließen.

„Dir ist niemand gefolgt.“

„Das war doch klar, warum auch?“, sagt Marlene. „Ich habe jetzt keine Lust mehr!“

„Kein Problem“, antwortet er. „Du sollst ja nur mal ein Gefühl dafür bekommen, wie man sich absetzen kann. So was kann man immer gebrauchen.“

„Bestimmt, aber ich weiß nicht, ob ich so drauf bin. Außerdem habe ich Hunger.“

„Da hinten gibt es Burger.“

„Goldener Adler, da geh ich nicht hin.“

„Dahinten ist ein Dönerladen.“

„Die haben hoffentlich Falafel. Ich will kein Fleisch essen.“

„Alles klar. Aber ich will nichts. Ich geh‘ kurz etwas einkaufen. Ist es okay, wenn ich dich allein essen lasse?“

„Logisch!“

Er drückt ihr 20 Euro in die Hand.

„Ich hole dich gleich dort ab.“

René nutzt solche Trainingstage, um Dinge zu kaufen, die man immer mal brauchen kann, die aber nicht mit ihm in Verbindung zu bringen sein sollen. Heute ist es extrascharfes Chilipulver, ein blauer Arbeitsoverall, eine große Umhängetasche aus Stoff, ein scharfes Teppichmesser, eine Packung dünne Gummihandschuhe, ein billiger Kleinrucksack, Sekundenkleber und ein Paar enge Arbeitshandschuhe.

Es gibt Dinge, die sollte man für Eventualitäten immer im Haus haben.

Dass René ziemlich schnell auf seine Einkäufe zurückgreifen muss, ahnt er in diesem Moment noch nicht …