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Antifa-Roman

35 | Das Nazi-Gericht

Der Kellerraum ist hell erleuchtet. An den Wänden hängen Naziembleme sowie Bilder von Adolf Hitler und Rudolf Hess. Die Möbel sind wie in einem Gericht angeordnet: vorne das Richterpult für Peter, Karl und Robert, davor zwei Stühle für die angeklagten Alfred und Bernd, eine Sitzgelegenheit rechts für den Ankläger sowie Stühle für das „Volk“ im hinteren Teil. Die Verhandlung ist natürlich nicht öffentlich.

Als Erste treffen die drei Richter ein, dann der Ankläger, Markus Rittling. Der Zweimetermann trägt einen kleinen Kinnbart. Er ist Inhaber eines Versandhandels für Klamotten, CDs und allerlei Utensilien für die rechte Szene: Plakate, legale Waffen, Flaggen. Er spielt hier fast immer den Ankläger. Eine Rolle, die dem elegant gekleideten Mittzwanziger auf den Leib geschnitten ist. Optisch ist er durch nichts als Nazi erkennbar, sondern ginge als App-Programmierer oder Webdesigner durch. Er ist klug, hinterhältig und grausam.

Langsam füllen sich die Zuschauerbänke. Die Nazis spielen das „gesunde Volksempfinden“. Als Letzte betreten die beiden Angeklagten den Kellerraum. Keiner spricht mit ihnen.

Der Vorsitzende Peter eröffnet die Sitzung mit einem Holzhammer. Alfred und Bernd sitzen betreten vor dem improvisierten Richterpult. Alles wirkt wie aus einem Klischeefilm über Illuminaten oder Freimaurer, nur dass an den Wänden die Fackeln und auf den Tischen die Totenköpfe fehlen.

„Alfred und Bernd, ihr seid angeklagt, euch der Disziplinlosigkeit schuldig gemacht zu haben. Damit habt ihr eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die der Bewegung schaden.“

Kurz fasst er den Sachverhalt zusammen. Dann hat der Ankläger Markus Rittling das Wort.

„Im Namen des deutschen Volkes und der nationalsozialistischen Bewegung wird euch mangelnder Gehorsam vorgeworfen. Für uns Soldaten ist das ein schlimmes, ja fundamentales Vergehen. Deshalb wird dieses Gericht entscheiden, ob ihr es wert seid, in unseren Reihen zu verbleiben. Ihr wisst, unsere Regeln sind hart, aber unsere Strafen gerecht. Ihr habt euch hier eingefunden, weil ihr weiter Teil der Bewegung bleiben wollt. Wenn nein, könnt ihr jetzt gehen. Mit allen Konsequenzen.“

Die Angeklagten bleiben sitzen.

Lieber Schläge als Kamerad statt Verfolgung als Abtrünniger, denkt Alfred. Ihm geht es schlecht. Er hat große Angst.

Das hier ist entwürdigend. Es ist unmenschlich. Ich fühle mich wie Dreck. Und ich habe auch schon dabei mitgemacht. Aber nie als Angeklagter.

Der Ankläger fährt fort. „Unsere Bewegung ist aus Blut und Tränen geschmiedet. Wir kennen gegenüber unseren politischen Feinden und den Schädlingen an unserem Vaterland keine Gnade. Deshalb müssen wir auch gegen uns hart und erbarmungslos sein. Disziplin ist der Kern eines jeden Soldaten. Und das sind wir alle hier im Saal: Märtyrer für unser bedrohtes Volk. Soldaten für Deutschland. Kämpfer gegen die Roten.“

Nur dass ihr, Markus, Peter und Robert, nie hier sitzen werdet. Sondern immer nur wir Fußvolk. Das würde Alfred am liebsten antworten. Aber er sagt nichts.

Theatralisch lässt Markus Rittling den Blick über die Anwesenden streifen.

„Euer Urteil sprechen die Richter, aber die Strafe bestimmt das Volk.“

Kurzes Schweigen.

„Möchtet ihr etwas zu eurer Verteidigung vortragen“, fragt der Ankläger die beiden.

Sie schütteln betreten die Köpfe. Sie wissen, dass jedes verteidigende Wort ihre Strafe verschlimmert. Hinnehmen und schweigen ist die beste Verteidigung.

„Wenn ihr nicht sprecht, stimmt ihr den Vorwürfen zu. Dann ist auch die Anklage der Meinung: schuldig!“

Er macht eine Pause.

„Ich möchte aber noch etwas zum Strafmaß sagen: Mögen die Anwesenden beachten, dass der Verlust ihrer Fahrzeuge bereits eine gewisse Bestrafung für die beiden ist.“

Peter, Karl und Robert tun so, als würden sie kurz beraten. Doch jeder weiß, dass der Schuldspruch bereits feststeht.

„Ich danke der Anklage“, sagt Peter schließlich und erhebt sich. „Das Gericht ist ebenfalls der Meinung, dass die beiden schuldig sind. Damit zeigen wir, dass wir den Volkskörper gesund halten und uns die Einheit unserer Bewegung über alles geht. Wir sind bereit zu leiden, damit Deutschland lebt. Egal in welcher Position, können wir alle, ob Kläger oder Ankläger, gut unterscheiden, was Recht und Unrecht ist. Ich möchte den Angeklagten dafür meinen Respekt ausdrücken, dass sie nicht versucht haben, ihr schändliches Tun zu rechtfertigen, sondern Manns genug sind, sich dem Willen des Volkes heldenhaft zu unterwerfen.“

Die Zuschauer murmeln Zustimmung. Theatralisch lässt Müller seinen Holzhammer niedersausen.

„Damit ist das Urteil gesprochen!“

Das Publikum wird aktiv. Alle rufen durcheinander. Stühle werden umgestellt und heftig diskutiert. Die Szene könnte „Kurz vor der Wirtshausschlägerei“ heißen.

„Ein Schlag für jeden!“

„Nein, zwei!“

„Zwei Hiebe und nackt herumkriechen!“

‚Das Volk‘ brüllt Hass, Menschenverachtung und Sadismus in den Raum. Hier bricht sich Bahn, was an unausgesprochener Wut in den faschistischen Kreaturen steckt. Für Psychologiestudenten wäre es eine Augenweide, für die kreidebleichen Angeklagten ist es der blanke Horror. Sie kennen den Ablauf, wissen genau, was auf sie zukommt. Mehrfach waren sie Teil dieses Tanzes der Gewalt, gehörten aber bisher immer zur strafenden Seite. Sie forderten ebenfalls „mehr Schläge“ oder „fester draufhauen“. Kein Opfer vergisst, was ihm angetan wurde. Ein unendlicher Teufelskreis. Viele Anwesenden waren hier schon einmal Opfer. Und alle waren schon Täter, auch Alfred und Bernd. Quälen gehört bei den Nazis zur Freizeitbeschäftigung, wie bei anderen Billardabende oder Kinobesuche. Jetzt sind Alfred und Bernd in der Opferrolle. Zeit für Rache an ihnen. Alfred ringt nach Atem. Er kämpft mit den Tränen.

„Das könnt ihr doch nicht machen“, presst er hervor.

„Oh doch!“, antwortet einer aus dem „Volk“. „Bei mir hast du damals drei Hiebe gefordert. Das zahle ich dir jetzt heim.“

„Ruhe!“, ruft Markus Rittling ins Gewirr. „Bedenkt bei der Strafe und beim Vollzug, dass sie am Montag arbeiten müssen und man ihnen nichts ansehen darf!“

Schließlich erhebt sich einer aus dem Publikum und verkündet: „Zwei Schläge von jedem, entweder auf den Hintern oder auf die Beine. Außerdem müssen sie zwei Monatslöhne an die Bewegung abführen.“

Peter erhebt sich und wiederholt das Strafmaß.

Ankläger Rittling tritt hinter seinem Tisch hervor und schreitet zu einem verhüllten Möbelstück in der Ecke. Er zieht das schwarze Tuch herunter, dreht sich dramatisch langsam zu den wartenden Neonazis und ruft: „Man möge das Urteil vollstrecken!“

Das enthüllte Möbelstück ist ein Prügelbock. Die Vorrichtung kam in deutschen KZs zum Einsatz.

„Los Alfred, ausziehen und darüberlegen. Mit dir fangen wir an“, befiehlt Karl. „Ralf, du machst Hände und Füße fest.“

Die beiden Angeklagten ziehen sich unter dem Gejohle der Nazis aus. Manche haben Bierflaschen mitgebracht. Die Kronkorken zischen.

„Nimm Platz“, zischt Karl Alfred ins Ohr. „Mach’s dir bequem!“

Die Menge brüllt. Mit mahlendem Unterkiefer liegt Alfred auf dem Holzbock.

Keinen Laut werdet ihr Arschlöcher von mir hören, redet er sich ein.

Karl tritt vor. Als Chef gebührt ihm die Ehre der ersten Schläge. Er schiebt einen kleinen Vorhang an der Wand zur Seite. Dahinter hängen Reitpeitschen, Bambusrohre und Gummiknüppel. Daneben die frisch geschnittenen Ruten, die Karl schon erwähnt hatte.

Der dicke Skinhead wählt davon eine aus. Geräuschvoll lässt er sie durch die Luft zischen. Alfreds Gesicht ist vor Entsetzen verzerrt, die Lippen blutig gebissen. Karl tritt einen Schritt vor.

„Jetzt geht’s lohoos!“

Er holt aus und schlägt zu. Schon nach dem zweiten Schlag schreit Alfred wie am Spieß. Die Kameraden kennen keine Gnade. Einer nach dem anderen wählt sich im Folterschrank einen Prügel aus und lässt ihn auf das geschundene Menschenfleisch sausen. Die Haut ist teilweise aufgeplatzt und blutet. Tränen laufen Alfred über das Gesicht. Es scheint nicht aufzuhören. Am schlimmsten sind die dicken Prügel. Sie schlagen die Muskeln auf Beinen und Hintern kaputt, während die dünnen Gerten ‚nur‘ die Haut zerfetzten.

Jeder einzelne Nazi zielt und schlägt wohlüberlegt. Sie feuern sich gegenseitig an und öffnen ein Bier nach dem anderen.

Außer Karl ist kein anderer Vertreter des ‚hohen Gerichts‘ bei der Vollstreckung anwesend. Viele Urteilsvollstreckungen geraten deshalb außer Kontrolle …

Wer nicht schlägt, brüllt herum, heizt die Stimmung an oder nimmt einen Zug aus Karls Meth-Pfeife. Es ist ein krankes Ritual. Menschen foltern sich gegenseitig.

Unterwerfung und Unterdrückung.

Befehl und Gehorsam.

Täter und Opfer.

Nazikultur.

Die Strafe an Alfred ist vollstreckt. Er kann nicht mehr stehen. Sie setzen ihn auf einen Stuhl mit einem Tuch.

„Den Lappen kannst du gleich mit heim nehmen und waschen. Ist ja auch dein Blut dran“, höhnt Karl.

Die schwitzenden Nazis konzentrieren sich jetzt auf Bernd. Alfred kann nicht hinsehen. Er steckt die Finger in seine Ohren. Aber die Schreie lassen sich nicht aussperren.

Bernd wird einmal bewusstlos. Sie wecken ihn und lassen erst von ihm ab, als die Strafe peinlichst genau vollstreckt ist.

Keine Gnade.

Preußische Beamtenseelen.

Erfüllungsgehilfen.

Eichmänner.

Bernd wird vom Prügelbock gehoben. Er ist halb ohnmächtig. Erst ein Glas Wasser weckt ihn wieder auf.

„Anziehen und abhauen“, befiehlt Karl.

Die Geschlagenen schaffen es nicht. Sie fallen hin. Alles ist voller Blut. Bernd erbricht sich.

„Wegmachen. Alles!“, schreit Karl.

In T-Shirt und Unterhose kriechen sie auf dem Boden herum. An ihren Wischlappen klebt Blut und Kotze.

Die Schlagwerkzeuge haben die Nazis wieder ordentlich hinter den Vorhang gehängt. Der Prügelbock steht ordnungsgemäß gesäubert und abgedeckt in der Ecke.

Bereit für das nächstes Mal.

Ordnung muss sein.

„Los, raus jetzt. Keinen Bock hier ewig rumzuhängen.“

Unter den wachsamen Augen von Karl Markowitz ziehen sich Alfred und Bernd vorsichtig an. Der Stoff brennt auf der blutenden Haut, die Muskeln sind Matsch. Die beiden torkeln nach draußen, stützen sich gegenseitig. Mehrfach fallen sie auf der Treppe hin. Völlig entkräftet.

Im Hof bleiben sie sitzen.

„Los Jungs, wir gehen zu den Angels feiern.“

„Ja Karl, ist ein geiler Abend.“

Die Nazis strömen nach draußen. Das Hoftor fällt ins Schloss.

Alfred und Bernd sind allein.