Kategorien
Antifa-Roman

39 | Celeste III

Immerhin ist die Frau vom Jugendamt gekommen. Celeste würde sonst durchdrehen. Losrennen, in den Wald. So lange, bis sie nicht mehr kann. Aber sie sitzt hier, im Jugendheim, das Schreiben des Gerichts in der Hand. Es ist völlig aufgeweicht. Aber ihr Tränenfluss versiegt nicht. Sie kann es einfach nicht fassen.

Scheinbar hat niemand meinen Vater umgebracht. Jedenfalls wurde der Angeklagte freigesprochen. Er ist nicht der Täter, sondern der mit dem Tattoo auf der Wade.

Aber der konnte nicht ermittelt werden. So steht es da. Und der Nazi sagte, dass er keinen mit so einem Tattoo kennt.

Aber Papa ist doch tot. Und es waren Nazis. Das geht doch nicht.

Aber das Gerichtsschreiben ist eindeutig: Freispruch.

Die Frau vom Jugendamt erklärt: „Im Zweifel für den Angeklagten, heißt es bei uns. Und da der Angeklagte ja keinen Totenkopf auf der Wade hatte, war er es ja sicher nicht.“

„Aber er weiß, wer es war. Wieso kann man ihn nicht zwingen, es zu sagen?“, will Celeste wissen.

„Er behauptet, von nichts zu wissen. Was soll das Gericht denn tun?“

„Ihn zwingen, zu sprechen.“

„Sie könnten ihn in Erzwingungshaft nehmen. Nach seinem Freispruch kommt er als Zeuge infrage.“

„Man muss doch einen Mann zu fassen bekommen, der eine große Tätowierung mit Totenschädel und Stahlhelm auf der Wade trägt.“

„Eigentlich schon.“

„Und warum lädt man dann nicht den Freigesprochenen als Zeugen, wenn das doch geht?“

„Da müssten wir das Gericht fragen.“

„Kann man nicht alle Wiesbadener Nazis vorladen und ihre Wade anschauen?“

„Doch. Das ginge. Das wird bei Mord schon mal gemacht. Diesmal aber nicht.“

„Warum diesmal nicht?“

Die Frau vom Jugendamt zuckt mit den Achseln.

Beide wissen warum.

„Weil mein Vater Schwarzer war“, flüstert Celeste leise.

„Einen Mörder findet man nur, wenn man wirklich danach sucht.“

„Ja“, sagt Celeste, „nur wenn man danach sucht …“