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Antifa-Roman

41 | Nunchaku

Als sich die sechs am Abend treffen, fährt Petra Stefan sofort an.

„Sag mal, bist du bescheuert? Du machst immer alles noch schlimmer. Jetzt haben wir auch noch den Hausmeister an der Backe, die Nazis waren doch schon genug!“

„Ach?“ Vera reagiert sauer. „Und vorher war der Weitzel unser Freund oder was?“

Stefan schaltet auf überheblich und reagiert auf die Anfeindungen einfach gar nicht: „Erst einmal Guten Abend alle zusammen!“

„Scheißegal“, schreit Petra. „So wird doch alles nur immer krasser. Was denn noch alles? Sollen wir uns mit der ganzen Welt anlegen?“

„Ich finde das okay“, sagt Marlene aufgebracht. „Irgendwas musste doch passieren. Wir können doch nicht so tun, als ob es uns nicht juckt, dass das Schwein wieder da ist.“

„Nein!“ Petras Stimme zittert. „Wir sind eine Gruppe. Wir sollten erst einmal über so was reden!“

„Reden?“, fragt Marc. „Was sollen wir denn da reden? Nach der Nummer sollen wir reden? Über was denn? Dass das alles ungerecht ist? Dass die Bullen einen laufen lassen, der Kinderpornos im Haus hat? Mit wem willst du denn darüber reden?“

„Das ist mir wurscht, aber so geht das nicht!“

„Petra, du bist nicht mehr zurechnungsfähig.“ Elena ist die Ruhe selbst. „Wo willst du dich denn hinwenden? Wer ist denn auf unserer Seite?“

„Mir macht das einfach nur noch Angst!“ Petra ist den Tränen nahe. Die Zigarette in ihrer Hand zittert. „Das ist zu groß für uns!“

„Du und deine Angst.“ Marlene ist wütend. Sie faucht Petra an. „Frag mal Isabella, wie es ihr geht. Die sitzt wieder zuhause und heult. Die fühlt sich von allen verlassen. Da muss man doch was machen. Sonst gibt es ja scheinbar niemanden, den das interessiert.“

„Frag doch mal Mîrhat zum Thema Sachen selbst in die Hand nehmen“, ereifert sich Vera. „Wenn die Kurden nicht selbst aktiv geworden wären, würden die Türken sie immer noch als Bergtürken beleidigen. Oder die Palästinenser. Wenn die nicht kämpfen würden, dann würden die Israelis noch mehr auf ihnen herumtrampeln. Oder denk mal an Nelson Mandela, was der dazu gedacht hätte. Der würde immer noch als Gefangener im Knast sitzen, wenn die Schwarzen nicht irgendwann gegen ihre Peiniger aufgestanden wären. Von alleine hat sich noch nie was zum Besseren gewendet.“

Marc nickt zustimmend.

Vera ist die Tochter ihrer Mutter. So ein Wissen kommt nicht aus der Schule. Das hat man nur, wenn man zwischen politischen Menschen groß wird. Toll, wenn man so viel weiß über die Welt. Wenn ich da an meine Eltern denke, völlige Langweiler!

Petra reißt ihn aus seinen Gedanken. Vera hat sie nicht überzeugt. „So geht das aber nicht. Wir können doch denen nicht einfach drohen!“

„Sondern?“, fragt Marc. „Was schlägst du denn vor?“

Schweigen. Petra bleibt die Antwort schuldig.

„Naja“, sagt Marc schließlich. „Ohne einen anderen Vorschlag wird es schwierig, etwas anders zu machen.“

Seine leichte Arroganz breitet sich unangenehm im Raum aus.

„Mir war es wichtig, ein Zeichen zu setzen.“ Stefan spricht ruhig. „Ich war stinksauer. Mir tat Isabella so leid. Es sollte eine Art rote Linie für die Arschlöcher sein. Ich glaube, es hat funktioniert! Angst ist bei solchen Leuten nicht zu unterschätzen. Und ihre Rache trifft ja eh nur mich. Außerdem wollte ich einfach was für Isabella tun. Mich hat das echt mitgenommen, als sie mir weinend in den Armen lag.“

Marlene stimmt Stefan zu. „Ja, ich kenne das. Sie so zu erleben ist grässlich! Ihr glaubt gar nicht, wie wichtig es für Isabella ist, dass sie fühlt, nicht allein zu sein!“

Dann wendet sie sich an Stefan.

„Sie ist dir unendlich dankbar für deinen Einsatz. Und ich bin es auch!“

Stefan schaut beschämt auf seine Füße.

„Ich bin auch froh, dass du das gemacht hast!“, sagt Vera.

„Ich auch“, ergänzt Elena.

Der Abend wird noch lang. Die sechs wissen nicht so recht, was sie tun sollen. Sie beschließen, sich erst einmal auf die antifaschistische Schülergruppe zu konzentrieren. Außerdem wird jemand von ihnen ab sofort immer bei Isabella sein, in der Schule, auf dem Hof und auf dem Schulweg. Marlene fährt mit ihr morgens im Bus zur Schule, die anderen holen sie abwechselnd vom Klassenraum ab und begleiten sie auf dem Pausenhof. So hoffen sie, dass Isabella allmählich ihre Angst verliert. Und dass kein weiterer Angriff stattfindet.

Zusätzlich wird Stefan ihr Kung-Fu-Unterricht geben. Das war Veras Idee, die er begeistert aufgreift.

Marc bleibt an diesem Abend bei Vera. Sie sitzen in der Küche, als Veras Mutter hereinkommt.

Sie wirkt bedrückt. „Habt ihr es schon gehört?“

„Was?“, fragen Marc und Vera gleichzeitig.

„Die Nazis planen einen Aufmarsch in Wiesbaden“, antwortet Annette. „Am 9. November.“

Stefan schiebt zuhause seinen Schrank von der Wand und hebt das hintere Brett auf der Rückseite ab. Seine Hand fährt in den schmalen Hohlraum und tastet nach der versteckten Waffe. Zärtlich streichelt er die beiden sechskantigen Hölzer, die eine Schnur verbindet.

Verboten, aber wirkungsvoll. Keiner konnte das besser als Bruce Lee.

Ihre Effektivität hat der Schauspieler in seinen Kung-Fu-Filmen aus den 1970er Jahren eindrucksvoll vorgeführt. Nachdem Stefan „Bruce Lee – mein letzter Kampf“ vor Jahren gesehen hatte, baute er sich umgehend ein Nunchaku aus einem zersägten Besenstil. Damals war er zwölf. Jetzt hat er ein Profigerät in der Hand, gekauft von einem Kollegen aus dem Kung-Fu-Training. Der hat es aus dem Ausland mitgebracht. Stefan geht damit in den Garten. Es dämmert bereits. Seine Eltern sind im Theater, wie jeden Donnerstag. Dauerabonnement. Großes Haus. „Wir sind eben kulturell sehr interessiert. Seit über 20 Jahren gehen wir ohne Unterbrechung“, wie seine Mutter zu sagen pflegt.

Im Weihnachtsmärchen waren sie mit mir als Kind allerdings nie, denkt Stefan verbittert. Und regelmäßig ins Theater heißt nur: sehen und gesehen werden. Das hat nichts mit Kultur zu tun! In Wiesbadens konservativer Oberschicht geht man eben ins Theater. Und wenn der Gatte, der Herr Professor, auf einem wichtigen Kongress im Ausland weilt, dann geht eben die untröstliche Gattin allein dorthin. Zwischen unzähligen Piccolos führt sie dann ihre Prada-Taschen aus und lässt sich ob der ständigen Verpflichtungen des wichtigen Herrn Gemahls bedauern. „Stößchen, meine Liebe. Ist das Stück nicht bezaubernd?!“

Der Garten der Villa ist von außen nicht einsehbar. Stefan bindet seine rote Lockenmähne zu einem Zopf und beginnt mit ein paar Dehn- und Aufwärmübungen. Dann greift er nach dem Nunchaku. Zuerst wirbelt er vor seinem Körper die berühmte „Acht“ zur Abwehr. Große Formen, kleine Formen. Gleichmäßig und flüssig. Ihm wird warm. Er zieht seine Jacke aus.

Handwechselübungen: hinter dem Rücken, rechte Seite, linke Seite. Dann Schläge, von oben, von unten, von der Seite … Um ihn herum greifen imaginäre Gegner von allen Seiten an. Er blockt, stößt zu, weicht aus.

Die Sechskanthölzer wirbeln um ihn herum. In seinen Augen ist die asiatische Waffe ideal. Relativ klein, zusammengefaltet etwa 30 cm lang, passt sie unauffällig in jede Jacke. Ihre Reichweite entspricht der doppelten Armeslänge, für Abwehr und Angriff gleichermaßen gut geeignet. Auch gegen mehrere Personen.

Stefan liebt diese Trainingsstunden am Abend. Niemand stört ihn. Nur der Wind streicht durch die Tannen und ein paar Vögel zwitschern.

Für irgendwas muss der Garten ja gut sein.

Das Nunchaku benötigt Konzentration und Ausdauer. Stefan geht zu Trefferübungen über. Er hängt seinen Boxsack an den Baum und beginnt, auf ihn einzudreschen. Von oben, von der Seite, von unten, aus der fließenden Bewegung oder einer Halteposition. Er fixiert einen Punkt und schlägt exakt zu. Das Problem ist der Rückprall, das freischwingende Holzteil wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Dann kombiniert er Handwechsel und Schläge. Der Gegner weiß bei einem Nunchaku nie, woher der nächste Schlag kommt. Stefan streut kurze Stopps in „Hab-Acht-Positionen“ ein und übt Blocksequenzen zum Schutz gegen angreifende Schläge.

Nach 20 Minuten schwitzt er aus allen Poren. Er hält inne. Es ist dunkel geworden. Er macht noch ein paar Dehnübungen und träumt vor sich hin. Während er den Boxsack vom Baum hebt, denkt er an Isabella.

Sie ist hübsch. Sie ist tapfer. Und sie gefällt mir.

Er hält inne. Ihm wird warm ums Herz.

Ich sehe sie vor mir, ihre glänzenden Haare, wie sie mit wippendem Schritt über den Schulhof läuft. Sie ist wunderschön.

Irritiert öffnet er die Augen. Das Nunchaku auf dem Schoß sitzt er im Schneidersitz auf dem Rasen.

Ich bin verliebt. Ich bin verliebt in Isabella Todetto, die kleine Schwester von Marlene.

Er steht auf.

Oh Mann. Und das ausgerechnet in diesem Chaos gerade. Oha. Naja, vielleicht soll das so sein.

Er strahlt, steht auf und geht zurück ins Haus. Während er das Nunchaku wieder in seinem Schrankversteck verstaut, genießt er die Schmetterlinge im Bauch.