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Antifa-Roman

44 | Schwul

Marc und Vera laufen zusammen los. Marc hat Lust auf frische Luft. Das Herbstwetter tut ihm nach dem anstrengenden Treffen gut. Er freut sich schon den ganzen Tag auf einen zärtlichen Abend mit Vera. Die Gespräche mit ihr liebt er ebenso wie ihren Körper. Es bereitet ihm Freude, seine Finger zärtlich über ihre warme Haut gleiten zu lassen. Während er noch so vor sich hinträumt, bleibt Vera an der Bushaltestelle stehen.

„Wo willst du hin?“, fragt er sie. „Ich dachte, wir gehen zu Fuß zu dir.“

„Meine Mutter hat uns zu einer Party eingeladen“, antwortet Vera.

„Auf eine Party habe ich eigentlich gar keine Lust.“

„Ich schon.“

Marc sieht seinen Schmusetraum zerplatzen. Er hat nun keine Chance mehr darauf. Vera in Feierlaune ist das Gegenteil von einem romantischen Abend, wie er ihn im Kopf hat.

Der Bus der Linie 8 kommt und sie steigen ein. Marc versucht immer, auf der Rückbank einen Platz zu bekommen. Er mag den Überblick und die Busbewegung ganz hinten.

„Na gut. Wo ist die Feier?“

„Im Amigo.“

„In der Schwulenkneipe?“

„Das ist eine LGBTIQ-Bar.“

„Eine was?“

„LGBTIQ.“

„Was ist das denn?“

Marc hat das noch nie gehört.

„Das steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual und Queer.“

„Aha. Und was macht deine Mutter da? Hat die nicht einen Freund?“

„Doch hat sie. Aber es könnte ja sein, dass sie auch noch lesbisch ist. Also bisexuell. Oder sie mag Rollenspiele und ist gerade queer drauf.“

Marc dreht den Kopf und schaut aus dem Fenster. Draußen saust die Stadt vorbei. Er weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. Über sexuelle Orientierungen hat er sich noch nie echte Gedanken gemacht. Er ist im Moment nur verliebt und genießt die Zärtlichkeiten mit seiner Freundin Vera. Weiter nichts.

Sie beobachtet sein Spiegelbild in der Scheibe. Dann umarmt sie ihn lächelnd und sagt: „Keine Sorge. Es ist ganz einfach. Ich wollte dich nur verwirren. Einer ihrer Freunde hat Geburtstag. That’s it.“

„Und was sollen wir da?“

„Mitfeiern!“

„Aber wir kennen die doch gar nicht.“

„Na und?“

„Ich war noch nie in so einer Kneipe.“

„Na dann wird es ja mal Zeit.“ Vera lacht. „Dir wird schon niemand an die Wäsche gehen.“

Eigentlich will er heute nicht in eine Bar. Aber er setzt ein Lächeln auf und beschließt, den Abend einfach auf sich zukommen zu lassen. Was soll’s, denkt er sich.

Das Amigos ist gerammelt voll. Die Stimmung ist bestens und die beiden drängeln sich durch die Menge. Auf der Bühne singt ein als Frau angezogener Mann Jazzlieder. Oder ist es eine Frau, die mal ein Mann war? Stimme und Musik klingen dezent weich und warm in den Raum. Die Bar ist angenehm hell, hinter dem Tresen arbeiten zwei kurzhaarige Frauen mit vielen Tattoos. Veras Mutter unterhält sich mit einem Mittdreißiger in elegantem Tuch, teurer Krawatte und handgefertigten Lederschuhen.

„Hallo Vera, hallo Marc.“

Annette küsst die beiden auf die Wange.

„Das ist Frank Weidner, das Geburtstagskind.“

Vera und Marc gratulieren. Frank sieht freundlich aus und hat eine positive Ausstrahlung. Marc findet ihn sofort sympathisch.

„Schön, euch kennenzulernen. Deine Mutter hat schon so viel von dir erzählt, Vera. Ein tolles Mädchen.“ Dann wendet Frank sich an Marc. „Und du bist ihr Freund Marc. Schön, euch hier zu haben. Habt Spaß und ordert, was ihr wollt. An meinem Geburtstag ist für meine Freunde alles frei!“

Sie bestellen zwei alkoholfreie Cocktails, Wildberry Dreams und Virgin Pink Lady. Dann smalltalken sie mit Annette und Frank. Marcs Blick schweift neugierig durch die Bar.

„Eure Drinks“, ruft eine der Frauen hinter dem Tresen.

„Wildberry Dreams ist für mich!“, meldet sich Marc.

Sie beugt sich zu ihm und stellt das Glas ab. Marc starrt ihr fasziniert in den Ausschnitt.

Wow, denkt er.

Sie hebt den Kopf und sieht ihm geradewegs in die Augen. „Vergiss es, Kleiner. Die wären höchstens was für deine Freundin.“

Damit dreht sie sich um und arbeitet weiter. Vera neben ihm prustet. Marc läuft feuerrot an. Sie prostet ihm zu.

„Reingefallen“, sagt sie gespielt schnippisch und lächelt.

Gut, dass sie nicht sauer ist. Sie kann so verschieden sein.

Er schaut sich weiter in der Kneipe um. Im hinteren Teil der beiden Räume ist es etwas dunkler. Die dort sitzenden Menschen sind schlecht zu erkennen. Das unterscheidet diesen Teil der Bar vom Rest. Manche der Männer küssen sich oder halten Händchen.

Vielleicht ist das die Knutschabteilung, denkt Marc und nimmt einen Schluck aus seinem Cocktailglas.

Plötzlich durchzuckt es ihn wie ein Stich. An einem der Tische sitzt ein dicker Mittfünfziger mit Glatze. Daneben ein dünner Jüngling. Marc kennt ihn. Es ist die Silhouette von Jochen, seinem ehemaligen Jugendfreund.

Das kann doch nicht sein.

Er schaut erneut hin. Er kann es kaum glauben. Die beiden sind in ein Gespräch vertieft, das aber eher wie eine Verhandlung wirkt. Marc kann von seinem Hocker aus nicht alles genau sehen. Aber Jochen rutscht hin und her und wirkt nervös. Der Glatzkopf greift in sein Jackett und holt etwas heraus.

Sieht seltsam aus. Ziemlich klein.

Unter dem Tisch reicht er es Jochen. Der steckt es hektisch in seine Hosentasche. Irritiert dreht Marc sich von der Szene weg.

Das war kein Geld.

Gedankenverloren nippt er an seinem Glas. Erinnerungen holen ihn ein.

Wir waren zusammen in der Grundschule. Jochens Vater war ausgezogen, als er drei war. In der Grundschule saßen wir nebeneinander. Vier Jahre gleicher Schulweg, gleiche Strafarbeiten und ewige Freundschaft. Es war eine gute Zeit.

Heute ist Jochen Kettenraucher, blass, groß und schlaksig. Seine Erscheinung ist kränklich, sein Haar dünn. Seit dem Wechsel aufs Gymnasium haben sich die beiden Freunde aus den Augen verloren. Sie kamen in getrennte Klassen. Dann blieb Jochen in der fünften Klasse sitzen. Niemand kennt ihre gemeinsame Vergangenheit. Manchmal nicken sie sich kurz zu. Jochen gehört mittlerweile zum Umfeld der rechten Schülergruppe. In den Pausen steht er bei ihnen und raucht. Marc hat ihn noch nie bei einer Provokation mitmachen sehen. Er wirkt immer seltsam unbeteiligt.

Aber Schwulenbar und Nazis? Wie passt denn das zusammen? Deine Schulfreunde hassen Schwule. Die bringen Homosexuelle um, wenn‘s sein muss

Marcs Kopf unternimmt einen weiteren Ausflug in die Vergangenheit.

Oft habe ich für dich den Kopf hingehalten, wenn es Ärger gab. Meine Mutter hat mir nie Stress wegen Schulstreichen gemacht, das war ihr egal. Aber deine hat jedes Mal gleich zugeschlagen, mit dem Kochlöffel, der Teppichbürste oder was sonst gerade greifbar war.

Weißt du noch, die Sache mit den Fliegen? Irgendein neuer Lover deiner Mutter war Angler. Er hatte seine Köder bei euch stehen lassen: ein volles Glas widerlicher Maden. Fasziniert beobachteten wir, wie langsam Fliegen daraus wurden, die sich in dem Glas drängelten. Dann hatte ich die glorreiche Idee, das Glas mit in die Schule zu nehmen. Als wir den Deckel öffneten, füllte sich das Treppenhaus mit Insekten. Überall flogen die Viecher herum. Sie krabbelten an Wänden, versteckten sich in Schränken, sammelten sich auf Gesichtern und fanden den Weg zur Schulküche. Das totale Chaos. Wir waren längst verschwunden. Niemand kannte die Verursacher. Wir hatten tierisch Bammel, dass alles rauskommen würde. Aber es kam nicht raus. Zumindest vorerst. Alles beruhigte sich wieder. Wir atmeten erleichtert auf. Leider bekam deine Mutter über eine Nachbarin die Sache mit. Die dumme Kuh hatte nichts Besseres zu tun, als zur Schulleitung zu gehen und sich für ihren Sohn zu entschuldigen. Danke. Nett auch, dass sie mich gleich mit reinzog. „Das war bestimmt die Idee von diesem Marc. Der stiftet meinen armen Jochen immer zu solchen Sachen an!“ Blöde Petze. Nie haben wir verstanden, was der Mist sollte. Wir bekamen einen Schulbrief. Du außerdem eine fette Tracht Prügel von deiner Mutter und ihrem Lover. Ich bekam zwei Wochen Hausarrest.

„Wie schmeckt denn der Cocktail?“ Franks Frage reißt Marc aus seinen Gedanken.

„Ah gut, Danke! Bist du öfters hier?“, fragt er zurück. Eigentlich will er nicht sprechen. Jochens Anwesenheit bringt ihn völlig durcheinander.

„Fast täglich.“

„Sind alle hier wegen dir hier?“ Das Gespräch mit Frank kostet ihn Überwindung.

„Nein, nur die hier in diesem Raum“, antwortet Frank. Er dreht sich um und zeigt in den dunklen Teil. „Da hinten geht es meist um Sex. Da werden Dates ausgemacht und so.“

Marc fasst Mut. „Darf ich dich was fragen?“

„Na klar, frag!“

„Wenn du geradeaus an mir vorbei schaust, siehst du einen Glatzkopf und einen Jugendlichen …“

Frank blick Marc über die Schulter.

„Ja“, antwortet Frank. „Und?“

„Der Alte und der Junge, das wirkt irgendwie komisch. Was machen die? Ist das so eine Art Fetisch? Alt und jung oder so?“

„Nein“, Frank lacht. „Du hast ja komische Gedanken. Das ist so ein bisschen die negative Seite des Schwulseins. Der Dicke ist ein Versicherungsmakler, verheiratet, zwei Kinder. Der andere ist eine Art Callboy. Der Glatzkopf kauft ihn sich für ein paar Stunden.“

„Bist du sicher?“

„Absolut. Der Junge ist oft hier.“

Mittlerweile ist auch Vera aufmerksam geworden und schaut in Jochens Richtung.

„Hey, den kenn ich doch.“

„Ja“, Marc reagiert nervös. „Guck nicht so hin.“

„Warum? Der ist doch auf unserer Schule“, sagt sie fröhlich.

„Ihr kennt den?“, fragt Frank verwundert.

Vera sieht aus, als wollte sie Jochen gleich zuwinken. Sie rutscht vom Hocker und macht den ersten Schritt in seine Richtung.

„Bleibt hier!“, zischt ihr Marc zu und hält sie am Ärmel fest.

„Hey, spinnst du?“

„Vera!“

„Hey Süße“, tönt es hinter dem Tresen hervor, „wenn der Typ dich belästigt, sag Bescheid …!“

„Lass mich los!“

„Vera, hör mir doch mal zu.“

Marc gibt sie frei.

„Na endlich“, hört er eine weibliche Stimme hinter sich.

Vera funkelt ihn an.

„Willst du mir jetzt verbieten, mit anderen Jungs zu sprechen?“

Sie ist gereizt und angriffslustig.

„Das fängt ja gut an mit uns.“

„Nein Vera, ich …“

Sie dreht sich um.

Er fasst sie erneut am Arm.

„Hörst du nicht?“, ruft die Bedienung.

„Hey Vera.“

Frank hebt abwehrend die Hand. Die Frau verschwindet. Vera dreht sich um. Frank sagt: „Marc hört sich an, als sei es ihm wichtig, dass du nicht dorthin gehst. Vielleicht hörst du ihm kurz zu und überlegst dann noch einmal.“

„Ich kenne den Typ, und ich kann ja wohl selber entscheiden, wen ich begrüße und wen nicht.“

„Ja, aber du nimmst Marc doch ernst, oder?“

„Na klar.“

„Na dann hör ihm doch einfach nur eine Sekunde zu, was er dir zu sagen hat. Und danach entscheidest natürlich du!“

Vera ist perplex. Zuhören und Geduld sind nicht ihre Stärken.

„Na gut.“

Frank nickt Marc aufmunternd zu.

„Jochen hängt immer bei den Nazis auf dem Schulhof herum!“

„Im Ernst?“, fragt Vera.

„Ja.“

„Aber ist doch cool, dass einer aus unserer Schule hier abhängt“, sagt Vera. „Nur was macht er da mit dem dicken Typen?“

„Er verkauft sich“, antwortet Frank. „Er ist Stricher.“

„Was?“

Vera fällt ihr alkoholfreier Cocktail fast aus der Hand.

„Sicher?“

„Absolut. Ich kenne mich hier aus.“

Vera sieht Marc an.

„Und du wusstest das?“

„Etwa zehn Sekunden vor dir.“

„Er hat mich gefragt und ich habe es ihm erklärt“, sagt Frank ruhig. Er sieht Vera in die Augen.

„Und? Wie lautet deine Entscheidung jetzt?“ Er lächelt.

Vera schaut etwas unsicher zu Boden.

Annette folgt der Diskussion ebenfalls irritiert.

„Ihr kennt den?“, will sie wissen.

„Das ist ein uralter Freund von mir“, erklärt Marc so ruhig wie möglich. „Ich glaube, er fände es nicht gut, wenn er wüsste, dass wir wissen, dass er hier als Stricher arbeitet … ! Deshalb lassen wir ihn lieber in Ruhe.“

Vera schaut Marc an.

„Bitte Vera. Nur mir zuliebe! Lass ihn! Das wäre ihm peinlich!“

Vera überlegt kurz. Dann drückt sie ihm einen Kuss auf die Lippen und flüstert ihm ins Ohr: „Marc Brenda, du bist der schlechteste Lügner der Welt. Ich weiß nicht, was du vorhast, aber Sorgen machst du dir um den Typen da ganz sicher nicht.“

Frank zwinkert Marc zu. Er wendet sich an Annette und sie nehmen ihr Gespräch wieder auf.

Vera flüstert weiter.

„Aber weil ich dich so gerne mag, mache ich jetzt, was du sagst. Ohne nachzufragen. Aber gewöhn‘ dich gar nicht erst daran. Aber später erzählst du mir, was wirklich in dir vorgeht! Versprochen?!“

„Versprochen!“

So bleibt Marc Zeit, sich eine gute Erklärung auszudenken. Vera stellt sich wieder an den Tresen. Sie merkt, wie es in Marcs Kopf arbeitet. Dort formt sich eine teuflische Idee.

Nazis mögen schwule Stricher nicht. Sie hassen sie. Jetzt habe ich Jochen in der Hand. Vielleicht kann ich ihn mit seinem Doppelleben zum Spitzel machen, ihn zum Verrat zwingen, ihn dirigieren oder Infos über ihn bekommen. Ich kann ihn nach allen Regeln der Kunst erpressen.

Marc knabbert gedankenverloren ein paar Nüsschen.

So wie Stefan das mit dem Naziarsch gemacht hat, als der verletzt vor ihm lag. Nur ist das hier eleganter.

Die Stimmen von Vera, Annette und Frank verschwimmen, die Musik klingt weit entfernt.

Vera beobachtet ihn aus dem Augenwinkel. Sie sieht sein Gehirn rotieren, sagt aber nichts.

Aber Jochen war mein Freund. Ich kann ihn doch nicht erpressen. Jetzt hängt er zwar mit den Nazis rum, aber ich kann ihn doch nicht so behandeln …

Seine Finger tasten in der leeren Nüsschen-Schale herum.

Und selbst wenn ich das tue, könnte ich ihn letztendlich an die Nazis verraten?

Die Bedienung bringt Nachschub. Marc bemerkt ihren bösen Blick nicht.

Aber die Gelegenheit ist günstig. Ich kann vielleicht mit der Erpressung den Aufmarsch verhindern. Oder sogar Leben retten.

Jochen steht auf.

Aber dazu muss ich sein Leben zerstören. Jochen wäre tot, wenn die braunen Arschgeigen das rausbekommen. Warum macht er das überhaupt? Ich meine, warum geht er das Risiko ein?

Jochen läuft Richtung Toilette.

Kann mir doch eigentlich scheißegal sein. Jochen ist jetzt Nazi. Was kümmern mich seine Motive …

Marc zieht am Cocktailstrohhalm. Das Glas ist leer.

Aber er war mal mein Freund!

Na und?

Heute ist er Nazi.

Bei diesem Gedanken hält Marc inne.

Halt, Marc. Was denkst du denn da plötzlich für einen Bullshit? Ist Jochen jetzt weniger wert? Weil er mit Nazis rumhängt? Oder sogar ein Nazi ist? Nein! Aber solche Leute muss man doch stoppen, weil sie eine reale Gefahr sind, für Leib und Leben anderer.

Jochen verschwindet aus Marc Sichtfeld.

Aber ist Jochen überhaupt Nazi? Ich habe ihn noch nie aktiv gesehen. Auf dem Schulhof sagt er nie was. Er steht nur in der Ecke der Rechten.

Marc steht spontan auf und läuft ohne Plan Richtung Toilette. Er hat einen schlimmen Verdacht. Sein Gefühl steuert seine Schritte.

Als er den Toilettenraum betritt, ist niemand zu sehen. Marc ist darauf gefasst, Jochen direkt in die Arme zu laufen. Doch der Raum ist leer. Fast leer. Die hinterste Kabine ist besetzt. Deutlich leuchtet das rote Symbol über dem Türknauf. Es ist totenstill. Marc geht zum Waschbecken neben dem Eingang. Er dreht das Wasser auf, drückt den Seifenspender und wäscht sich lautstark die Hände. Dann holt er geräuschvoll Papiertaschentücher aus dem Wandhalter. Aus der Kabine ist kein Mucks zu hören. Aber Marc kann die Nervosität spüren, die aus der verschlossenen Toilette dringt. Kein Reißverschluss, kein Klopapierabreißen, keine Spülung. Marc spuckt noch einmal vernehmlich ins Waschbecken, spült nach und öffnet die Tür. Laut lässt er sie ins Schloss fallen.

Aber er ist im Toilettenraum stehen geblieben. Er wartet. Bewegungslos. Sekunden vergehen. Dann hört er ein Rascheln. In der hinteren Kabine erwacht eine erstarrte Eisfigur zum Leben. Marc vernimmt ein leises Knirschen auf dem Spülkasten, dann ein Klopfen, Schaben und wieder Klopfen. Schließlich hört er, was er befürchtete: deutliche Sauggeräusche. Ein tiefes Hochziehen durch die Nase und ein erleichtertes Stöhnen. Ein Körper fällt schwer auf den Klodeckel.

In diesem Moment betritt ein Mann die Toilette. Marc huscht durch die Tür. Er hat genug gehört.

Koks, Speed oder Crystal?

Marc hatte das schon einmal live gesehen. Ein Pärchen bereitete sich eine Line in den Reisingeranlagen am Bahnhof vor. Die Geräusche waren die gleichen wie eben auf der Toilette.

Marc beschließt, im Vorraum auf Jochen zu warten.

Es dauert eine ganze Weile, bis er herauskommt. Der dünne Körper wirkt entspannt, der Gesichtsausdruck ist selig. Das ändert sich schlagartig, als er Marc erkennt. In seinem Gesicht erscheint Panik.

„Hallo Jochen“, sagt Marc mit leiser Stimme.

„Was machst du denn hier?“

Jochen hält sich am Türrahmen fest. Er steht mit dem Rücken zur Wand. Am liebsten würde er in der Mauer verschwinden.

„Dich treffen und dein Elend sehen!“

„Wie meinst du das?“ Jochen hat sich etwas gefangen, doch er wirkt noch sehr verunsichert.

Los Marc, sag es ihm ins Gesicht. Jetzt sofort. Konfrontiere ihn, lass ihm keinen Ausweg. Jetzt oder nie.

Marc zögert.

Wenn du ihn erpressen willst, darfst du jetzt hier nicht das Weichei spielen!

Er gibt sich einen Ruck.

Nein. Hör auf dein Gefühl. Jochen war immer ein guter Junge. Jetzt ist er eine arme Sau. Lass ihn in Ruhe!

„Du bist ein drogenabhängiger Stricher geworden. Du lässt dich ficken und bläst stinkende Männerschwänze für Drogen.“

Jochen erstarrt. Er lehnt sich an die Wand. Sein Körper sackt zusammen.

So, du Nazisau, jetzt mach ich dich fertig!

Jochen blickt auf den Boden. Seine Augen füllen sich mit Tränen.

Du weißt doch gar nicht, ob er wirklich ein Nazi ist!

„Nein. Nein. Nein.“

„Oh doch! Ich habe alles gesehen, Jochen.“

Er rutscht weiter nach unten.

„Das ist nicht wahr! Das bin ich nicht!“

„Doch, das bist du. Und du hast dich an den Glatzkopf dahinten am Tisch verkauft.“

Jochen zittert.

„Na, was mag er? Eierlecken? Arschficken? Rollenspiele vielleicht?“

Jochen dreht sich zur Seite. Er versucht wegzulaufen.

„Hiergeblieben. Wir sind noch nicht fertig!“

Ich habe ihn so weit. Jetzt sage ich ihm, was ich von ihm will: Infos von seinen Nazifreunden.

Marc hält Jochen am Arm fest.

Manchmal muss man hart sein. Manchmal geht es nicht anders!

„Warum machst du das?“

Marc ist gnadenlos. Er blickt Jochen direkt in die Augen.

Der zieht seinen Nasenschleim hoch. Das Pulver brennt wie die Hölle. Ihm laufen die Tränen.

„Hör auf zu heulen“, brüllt Marc ihn an. Hart. Wütend. Unerbittlich.

Vera würde durchdrehen, wenn sie mich so sehen könnte.

„Schau mal in den Spiegel, du Wrack!“

„Du erzählst es doch niemandem?“

Jochens Worte sind kaum zu verstehen. Er schnieft erneut.

Jetzt sag es ihm! Jochen ist am Boden!

„Warum?“

„Weil ich das nicht aushalte.“

„Was?“

„Dass ich bin, was ich bin.“

„Was bist du?“

Die Tränen laufen stärker. Nun auch die Nase. Jochen schaut Marc an.

„Die bringen mich um.“

„Wer?“

„Na die aus der Schule.“

„Deine Nazifreunde?“

Jochen nickt. Er sackt noch weiter zusammen. Von unten sieht er Marc nur durch einen Tränenschleier.

Marc sieht plötzlich nur noch die erbärmliche Gestalt vor sich, die einmal sein Freund war.

Du hattest es in deinem Scheiß-Leben bisher immer nur schwer. Alkohol, Schläge und Demütigung waren deine Familie.

„Ja, die Nazis.“

Marcs Hass bröckelt.

„Deine Freunde!“

Jochen schüttelt den Kopf.

„Ich habe keine Freunde.“

Mitleid kämpft sich in Marcs Herz.

„Du hängst mit ihnen rum.“

„Das sind keine Freunde.“

Marc zieht Jochen nach oben. Er steht nach vorne gebeugt vor ihm.

„Wir waren mal Freunde.“

„Ja, waren wir.“

„Lass uns reden.“

„Nein.“

„Vielleicht kann ich was für dich tun.“

Jochen schüttelt den Kopf. Ein feines Rinnsal aus Blut läuft aus seiner Nase.

„Sag niemandem etwas.“

Er sieht Marc flehend mit toten Augen an.

Irgendwo in dem zerbrochenen Blick erkennt Marc den Menschen.

Armes Kind. Getretener Freund. Ewiges Opfer.

„Ich fühle mich so eklig.“

„Was nimmst du?“

„Crystal. Seit ein paar Monaten.“

„Was, diese Drecksdroge?! Sie macht aus Menschen willenlose Kreaturen.“

„Ich weiß.“

Erneut laufen Tränen über Jochens Gesicht.

„Ich halte es nicht mehr aus. Meine Mutter trinkt noch mehr als früher. Ich muss den ganzen Haushalt machen. Meine Oma wohnt bei uns. Sie ist ein Pflegefall. Völlig dement. Ich wische den ganzen Tag Scheiße weg. Marc, ich bin völlig fertig.“

Jochen wankt. Das Blut an der Nase wischt er mit dem Handrücken ab.

„Ich muss jetzt los, Marc. Der Typ wartet.“

„Wann sehen wir uns? Es sollte bald sein!“

Jochen, du siehst echt elendig aus. Und du hast Angst. Das ist gut für meinen Plan.

In Marc ringen zwei Gefühle miteinander.

Wir brauchen Jochen als Spitzel gegen die Nazischweine.

Jochen schaut ihn flehend an.

„Bitte!“

Er tut mir leid. Unendlich leid. Ich kann dieser menschlichen Ruine doch nicht auch noch etwas Schlimmes antun. Jochen ist ein Mensch.

Zwei Stimmen streiten in Marcs Brust.

Verstand und Gefühl. Herz und Hirn.

Ich bin kein Schwein. Ich will kein Schwein sein. Ich kann das nicht. Ich kann diesen seelischen Krüppel nicht auch noch ein Messer in den Rücken jagen. Ich muss ihm helfen. Verdammt, ich muss Jochen einfach helfen. Scheiße.

„Ich muss los.“

Aber die scheiß Nazis wollen uns doch fertig machen. Ich darf mich nicht so anstellen. Scheiß auf Jochen. Der ist sowieso am Arsch. Die Nazis aufhalten ist wichtiger als Rücksicht nehmen auf diesen miesen Drogenstricher.

Jochen schaut ihn mit trüben Augen an. Sein Blick verliert sich in der Ferne.

Ich bin Marc Brenda. Ich bin ein Mensch. Wir brauchen Infos über die Nazi-Schweine. Aber Jochen war mein Freund!!! Verdammt. Verdammt. Verdammt.

Sein Herz gewinnt.

„Morgen um drei treffen wir uns in Mainz-Mombach im Burger King. Es ist besser, wenn uns keiner sieht. Deine Freunde würden dir den Schwanz abschneiden, wenn sie das hier wüssten.“

„Ich weiß. Ich weiß.“ Jochen wischt sich die Tränen ab. Auf seiner Oberlippe glänzt ein Rest Nasenblut.

Marc macht einen Schritt auf Jochen zu.

Der zuckt zusammen.

Ich will Mensch sein. Immer. Das will ich nie vergessen!

Marc nimmt seinen ehemaligen Schulfreund in die Arme. Jochen ist steif und kann kaum reagieren.

Er fühlt sich an wie ein kalter Laternenpfahl.

Er will ihm eine Chance geben.

Ich bin der Stärkere. Ich gehe jetzt in Vorlage. Ich habe nichts zu verlieren. Ich muss versuchen, die verschütteten Gefühle in diesem zertrümmerten Körper wieder zum Leben erwecken. Auf Crystal bekommt er wohl nicht mehr viel mit, hat keinen Zugang zu sich und seinen Gefühlen. Die Droge vernebelt die Realität, gaukelt Stärke vor, macht gefühlstot.

Marc drückt Jochen kurz. Der zittert. Und er weint.

Irgendetwas kommt bei ihm an. Ein Rest vom Menschsein lebt noch irgendwo in den Tiefen seiner gemarterten Seele.

Marc flüstert ihm ins Ohr.

„Nach jeder Talsohle geht es auch wieder bergauf. Ich kann dir vielleicht einen Weg zeigen, Jochen. Aber laufen musst du alleine.“

Marc lässt seinen ehemaligen Schulfreund nicht los. Er drückt ihn weiter. Dann fühlt er Jochens Hände auf seinem Rücken. Der begrabene Mensch hat sich durch den Drogenvorhang gekämpft. Jochen umarmt ihn unsicher.

„Morgen also?“

„Ja“, sagt Jochen. Er löst sich von ihm. Ein letzter Blick, dann dreht er sich um und geht.

Im Türrahmen bleibt er kurz stehen und flüstert: „Danke!“ Dann ist er verschwunden.

Als Marc in den Gastraum tritt, sieht er nur noch, wie Jochen mit dem Glatzkopf durch den Ausgang nach draußen tritt. Der Dicke schiebt ihn wie ein Stück Vieh vor sich her.

„Wie siehst du denn aus?“, fragt ihn Vera, als Marc wieder am Tresen auftaucht. „Ist dir der Leibhaftige erschienen?“

„So ähnlich“, antwortet Marc. „Ich würde jetzt gerne gehen.“

„Kein Problem“, sagt Frank. „Ich sehe schon, dir geht es nicht so gut. Aber ich würde mich freuen, euch beide einmal wieder zu sehen. Ihr könnt auch gerne jederzeit vorbeikommen. Falls ihr es nicht gemerkt habt: Das war eine Einladung! Hier ist meine Karte.“ Marc und Vera bedanken sich.

Auf dem Heimweg hakt sich Vera bei Marc unter und sie laufen zur Dachwohnung von Mutter und Tochter Swanka.

Marc sagt nichts und Vera fragt nicht nach. Sie merkt, dass in Marc ein Tornado an Gefühlen tobt.