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Antifa-Roman

19 | Mîrhat

Die sechs treffen Mîrhat um 17 Uhr. Marlene hat es gerade noch pünktlich geschafft. Von ihrem Trip mit René erzählt sie den anderen nichts. Im Westend wohnen in Wiesbaden die meisten Menschen ausländischer Herkunft. Es ist ein kleines Café in einem Hinterhof. An den Wänden hängen bunte Plakate mit den Umrissen Kurdistans und Frauen in Uniformen mit Kalaschnikows. Eine Gruppe Männer sitzt um einen Tisch und spielt Backgammon.

„Will jemand einen Tee?“, fragt Mîrhat seine jugendlichen Gäste. Alle nehmen einen.

Während sie sich setzen, werden kleine Teegläschen gebracht sowie Sesamringe und klebrig-süße Baklava.

Mîrhat ist ein Bär von einem Mann, mit dickem Schnauzbart und warmen Augen. Er strahlt eine ungeheure Wärme aus, Herzlichkeit und Lebensfreude. Der ideale Onkeltyp. Niemand würde ahnen, dass er einmal gefoltert wurde. Nur seine Stimme passt nicht zu ihm. Sie wirkt hart.

„Was wollt ihr wissen?“, fragt er freundlich.

Vera beginnt. Sie kennt Mîrhat seit Jahren.

„Wir haben Ärger mit Nazis und meine Mutter sagte, dass du uns vielleicht helfen könntest.“

„Wie?“

„Das wissen wir nicht. Wir sind da eher so reingestolpert“, sagt Elena.

Mîrhat fordert sie auf, zu erzählen. Und das tun sie. Sie sprechen von den Parolen, der fehlenden Unterstützung durch den Direktor, vom widerlichen Hausmeister, von den Rechten im Schulhof, den Drohungen und von dem Überfall auf Stefan. Geduldig hört Mîrhat zu und spielt mit seinem Bart.

Als sie fertig sind, sagt er: „Ihr müsst euch Freunde suchen. Es gibt überall gute Leute, sicher auch an eurer Schule. Ihr müsst sie finden.“

„Wie findet man sie?“, will Elena wissen.

„Organisiert eine Versammlung. Sprecht mir Lehrern, die nicht so bekloppt sind wie dieser …“

„Lemper.“

„Genau. Habt ihr einen Vertrauenslehrer? Eine Schülervertretung? Irgendwas in der Art?“

„Es gibt einen Vertrauenslehrer, Barzel heißt er“, weiß Marlene. „Meine Schwester hatte ihn mal in der sechsten. Muss ein netter Typ sein.“

Petra ist wieder einmal offensichtlich nervös. Sie ist froh, dass man in dem Café rauchen darf. Sie atmet tief durch und sagt: „Gibt es in der Türkei wirklich Nazis?“

Mîrhat schaut sie verdutzt an. „Allerdings. Es sind Faschisten, man findet sie überall: im Staat, bei der Polizei, in der Armee. Sie sind gegen Griechen, Armenier, Kurden, Schwule, Sozialisten, Kommunisten. Sie fühlen sich als etwas Besseres.“

Er blickt Petra mit neugierigen Augen an. Sie schaut unsicher zur Decke.

„Warum fragst Du?“

Bevor Petra antworten kann, interveniert Vera: „Bleiben wir doch erst einmal bei der Versammlung.“

„Ja, entschuldige“, flüstert Petra.

„Naja, was soll ich dazu sagen? Ihr wisst doch, wie man so etwas organisiert, oder?“

„Ja“, sagt Stefan. „Das bekommen wir schon hin.“

„Denke ich auch“, pflichtet Marc ihm bei.

„Erzählst du uns jetzt von Kurdistan?“

Mîrhat lässt seinen Blick über die Schüler schweifen. Dann beginnt er. Erst ruhig, dann wütender.

„Präsident Erdogan ist ein Faschist. Er hält den Koran hoch und schafft die Demokratie ab. Er will eine Art Sultanat errichten. Zusammen mit den Faschisten der Grauen Wölfe zieht er eine Blutspur durch die Türkei und Kurdistan. Die Armee belagert kurdischer Städte, verhängt Ausgangssperren und ermordetet Zivilisten. Es ist eine Katastrophe. Hunderte sind gestorben, Frauen, Männer und Kinder. Unbewaffnet und hilflos. Ganze Viertel wurden abgerissen und neue Häuser gebaut. Breite Straßen für Panzer und überall neue Polizeiwachen und Armeeposten. Erdogan plant die totale Überwachung, aber erst bringt er massenweise Menschen um.“

Mîrhat spricht über den Einmarsch nach Syrien und Angriffe gegen Kurden im Irak. Er spricht von türkischem Giftgas, tödlichen Drohnen, verletzten Verwandten und erschossenen Nachbarn. Sein eigenes Schicksal erwähnt er nicht. Aus seinen Worten spricht die Geschichte eines Volkes, das Qual, Erniedrigung und Krieg kennt. Er wendet sich voller Leidenschaft gegen Unterdrückung und Faschismus. Seine Seele glüht. Die sechs spüren seine Menschlichkeit. Seine Worte finden ihren Weg in ihre Herzen.

„Und egal wie grausam der Feind ist, man selbst muss immer die Würde bewahren und darf nie die Grenze überschreiten. Egal was passiert, man muss sich treu bleiben und Mensch bleiben. Egal in welcher Situation.“

Marc hat noch nie so eine Ansprache gehört. In seiner Brust schlägt es wie wild. Er hat eine Gänsehaut. Die Ehrlichkeit und die Wärme des kräftigen Mannes haben ihn sehr berührt. Vera hat zwischendurch nach seiner Hand gegriffen, Petra wischte ein paar Tränen weg.

Ein paar Männer stehen um Mîrhat herum. Einer hat eine Hand auf seine Schulter gelegt.

„Unsere Brüder und Schwestern in Syrien kämpfen gegen die türkischen Faschisten und Daesch, wie wir den IS nennen, und die Welt schaut zu, wie unser Volk abgeschlachtet wird. Die Türken sind echte Schweine!“, sagt einer.

„Die Regierung sind Schweine, nicht die Türken“, korrigiert Mîrhat.

„Wisst ihr, wenn man einmal angefangen hat, für die Freiheit zu kämpfen, dann trägt man das für immer in sich. Egal wo man ist“, erklärt ein Mann, den Marc auf 50 Jahre schätzt. Ein junger Kerl im modischen Outfit schiebt sich nach vorne an den Tisch. Solche Typen gibt es haufenweise an Wiesbadens Dönerbuden: gegelte Haare, teure Turnschuhe, cooles T-Shirt. Er sieht aus wie ein Rapper.

„Wenn ihr mal Ärger mit Faschisten habt, dann kommt vorbei. Mit Nazis kennen wir uns aus.“

Die Männer nicken zustimmend.

„Es könnte sein, dass wir ziemlich schnell auf dieses Angebot zurückkommen müssen“, sagt Elena.

„Kein Problem, wir sind hier!“

Als die sechs den Heimweg antreten, spricht niemand. Petra bricht das Schweigen: „Ich bin ziemlich mitgenommen. Mein Kopf rast. Ich habe viele Fragen. Ich würde gerne mit euch darüber reden. Mir scheint, dass hinter unseren Schulnazis ein viel größeres Problem steckt. Was denkt ihr?“

Den anderen geht es ähnlich. Aber sie wollen jetzt ins Bett. Sie gehen auseinander. Bis auf Marc und Vera. Wie selbstverständlich biegt er in Richtung ihrer Wohnung ab. Der Herbstwind hat zugenommen, um die Lichter der Straßenlaternen tanzen helle Kreise. Ihnen fröstelt.

Als sie im warmen Wohnzimmer sitzen, kommt Veras Mutter herein: „Na, wie war es?“

Marc antwortet: „Kurden kannte ich bisher nur aus der Zeitung. Die wirkten sehr nett. Aber auch hart.“

„Bisher kannte ich ja nur Mîrhat, aber die anderen sind auch irgendwie total sympathisch.“

„Es gab Tee und Süßkram.“

„Gastfreundschaft gilt überall in der Welt als hohes Gut. Nur bei uns nicht“, sagt Annette nachdenklich.

„Ich merke einfach, dass das alles viel komplexer ist, als uns lieb ist. Mîrhat hat versucht, uns zu erklären, was Faschismus ist. Und dass auch Islamisten Faschisten sein können …“ Marc macht eine Pause. „Unser Problem ist offenbar nicht einfach mit wegboxen zu lösen. Aber immerhin hätten wir nun Unterstützung, haben sie gesagt.“

Vera nickt zustimmend.

„Es scheint, als ob wir uns zusätzlich zu der Frage, was wir konkret mit unseren Nazideppen machen sollen, noch mehr Fragen stellen müssen. Denn die Nazis kommen ja nicht aus dem Nichts. Die fallen ja nicht vom Himmel. Man wird doch nicht als Menschenhasser geboren.“

Annette blickte Marc ruhig von der Seite an. „Mir scheint, als würdest du dir ziemlich viele Gedanken machen. Es freut mich, dass dieses Treffen dazu beigetragen hat, dir Zusammenhänge anzudeuten. Und glaube mir: Die Kurden waren am Anfang auch nur wenige. So fängt es immer an!“

„Ich glaube, ich muss noch viel lesen. Anfangen werde ich wohl mal mit irgendwas zu Antifaschismus in Deutschland.“

„Als Hitler seine ersten Schritte machte, wurden schnell Leute gegen ihn aktiv. Damals gründeten sie die Antifaschistische Aktion.“

„Das habe ich schon mal gehört. Gibt es da einen Zusammenhang mit den Antifa-Aufklebern rund um das Café Matsch?“

„Bestimmt. Wenn du magst, kann ich dir Bücher zu dem Thema leihen.“

„Ehrlich? Das wäre toll.“

Vera umarmt Marc. „Das ist nämlich ein ganz Schlauer, deshalb hab‘ ich ihn ja auch so gerne.“

Annette strahlt. „Darf ich euch jetzt eigentlich als Paar bezeichnen? Am ersten Morgen in der Küche ist mir Marc nämlich die Antwort auf die Frage schuldig geblieben, ob ich ihn denn nun öfters morgens sehen werde …“

Marc wird wieder ein bisschen rot.

„Ja, wir sind ein Paar!“, sagte Vera selbstbewusst. „Und ich bin froh, dass ich gleich nicht allein im kalten Bett liegen muss.“

Sie drückt ihn.

„Als Veras Freund kannst du dich bei uns wie zu Hause fühlen. Für mich bist du jetzt der Freund meiner Tochter. Das ist etwas Besonderes. Ich wäre nun gerne für dich eine Vertraute, wenn du möchtest.“

Erneut überzieht eine leichte Röte Marcs Gesicht. Er flüstert: „Danke, Annette.“

Erst später, als Marc neben Vera liegt, erinnert er sich, was die sechs auf dem Heimweg vereinbart haben. Sie wollen sich nun immer dienstags treffen. Aber sie wollen nicht nur reden, sondern auch etwas tun. Die Übermalaktion war eine gute Sache, aber Elena schlug vor, auch darüber nachzudenken, dass etwas wegen des Angriffs auf Stefan passieren müsse. Stefan war ihr dafür sehr dankbar. „Ich dachte schon, dass ihr es vergessen würdet und zu den Akten legt.“

Vorläufig haben sich den Namen „Sechserbande“ gegeben.