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Antifa-Roman

20 | Geocaching

Auf dem Heimweg am nächsten Morgen hängt Marc seinen Gedanken nach. Es ist Sonntag. Er hat ausführlich und gemütlich bei Vera gefrühstückt. Seine Mutter, die ihn nun schon Tage nicht gesehen hat, tut ihm ein bisschen leid.

Sie wird sich freuen, wenn ich ihr erzähle, dass ich mich verliebt habe. Das mit der Gruppe erzähle ich ihr nicht. Das geht sie nichts an. Und sie würde es auch nicht verstehen. Ich fühle mich wohl mit der „Sechserbande“. Alle sind so verschieden, aber wir vertrauen einander. Unsere Gespräche sind angenehm offen. Wir sind wie so eine kleine verschworene Gemeinschaft. Wir hegen ein Geheimnis, haben gemeinsame Feinde und nun auch Freunde. Ich vertraue ihnen viel mehr als meinen Eltern. Oder anderen Erwachsenen. Außer vielleicht noch Annette. Die ist echt in Ordnung. Und mir irgendwie nah. Meiner Mutter vertraue ich auch. Zumindest halbwegs. Aber nicht so wie Annette.

Marc erreicht gedankenversunken sein Wohnhaus. Er schließt die Tür auf. Im Flur erwartet ihn seine Mutter. „Wo warst du denn bloß, Junge? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Sie weint. Marc drückt sie kurz.

„Ich habe mich verliebt.“

„Ehrlich? Das ist ja toll!“ Sie tupft ihre Tränen ab.

„Ja, und sicher lernst du Vera auch bald einmal kennen.“

„Das würde mich freuen.“

„Ich würde jetzt gerne in den Wald, geocachen. Ist das okay?“

„Unterhalten wir uns dann heute Abend mal?“

„Ja, aber versprechen kann ich nichts …!“

Damit verschwindet er in seinem Zimmer und packt sein Geocaching-Set: GPS-Empfänger, Stift, Notizblock, wasserdichte Box und ein kleines Geschenk. Diesmal ist es ein alter Schlumpf, der Skater-Schlumpf. Er schnappt sein Rad und fährt Richtung Frauenstein zum Grauen Stein, um dort den Geocache zu platzieren. Aber in Wahrheit will er nur allein sein. Einfach mal an etwas anderes denken. Ein bisschen auf dem Felsen rumkraxeln. Einen Geocache platzieren, alles eintragen, das ist ideal zum Abschalten. Geocachen ist seit Jahren sein Hobby. Dafür wandert er stundenlang allein durch den Wald, klettert auf Felsen oder durchstöbert verlassene Gebäude.

Die Verstecke von Geocaches sind auf Internetseiten aufgelistet. Meist sind es Boxen mit einer kleinen Überraschung. Man nimmt sie raus und tut eine neue rein. Irgendwann wird der Skater-Schlumpf den Besitzer wechseln. Es regnet leicht. Herbstwetter. Es ist niemand unterwegs. Die Wege sind schlammig, der Wald nebelverhangen.

Ich verstecke die Box irgendwo oben. Dazu muss ich erst einmal hochklettern. Ganz schon rutschig hier. Das Moos ist glitschig wie Schmierseife.

Marc stellt seinen Rucksack enger. Seine Hände finden schlecht Halt. Seine Schuhe rutschen. Er fühlt sich unwohl. Sieben Meter ist er jetzt über dem Boden.

Ausreichend, um mir ein paar Knochen zu brechen. Aber hier oben ist ein cooler Ort. Eine tolle Aussicht.

Seine Hand klammert sich an einem kleinen Eichensprössling fest. Dann rutscht er ab. Die Beine baumeln ins Leere. Er krallt die zweite Hand verzweifelt ins weiche Moos. Die Füße tasten nach einem Absatz, irgendeinem Tritt. Die junge Eiche biegt sich. Die Hand im Moos beginnt zu rutschen.

Wenn ich jetzt nicht sofort was für die Füße finde, knalle ich da runter. Scheiße Mann, warum klettere ich auch an so einem Tag hier rauf?

Ich will nicht fallen. Keinen Bock auf ein Gipsbein. Das würde mir jetzt mit den Scheiß-Nazis gerade noch fehlen.

Er stutzt.

Sogar jetzt fallen mir diese verdammten Nazis ein.

Da ertastet sein linker Fuß einen Vorsprung.

Hoffentlich hält er.

Er kann sich darauf stellen. Kurz, aber lang genug, um mit der Hand nach einem großen Stein zu greifen. Dann findet auch sein rechter Fuß Halt. In dem Moment bricht die kleine Eiche. Marc sackt ab, aber er steht auf beiden Füßen.

Glück gehabt!

Er zieht sich auf den Felsen und sucht nach einem Versteck. Zwischen zwei Steinen wird er fündig. Auf den Block schreibt er eine Begrüßung und packt ihn zusammen mit dem Schlumpf in die wasserdichte Box. Er tarnt das Versteck mit etwas Moos, holt sein Smartphone heraus und trägt die Daten in die Geocaching-App ein. Jetzt ist sein Cache für alle sichtbar und kann gefunden werden.

Ich bin gespannt, wie die Kommentare sein werden. Hier ist es einfach schön. Sowas gefällt Geocachern.

Dann hört er Stimmen. Er schaut nach unten und sieht zwei Typen in Tarnjacken. Sie tragen Springerstiefel, Militärrucksäcke und Moleskinhosen, einer hat die Hosenbeine hochgekrempelt.

Sicher so Bundeswehrtypen bei einem Trainingsmarsch, denkt Marc.

Die beiden laufen unten am Felsen vorbei. Marc kann sie gut verstehen, sie unterhalten sich laut.

„Du hast echt Glück, Maik, dass der Werner bisher die Schnauze gehalten hat.“

„Was soll er auch tun? Die anderen würden ihm die Hölle heißmachen.“

„Bist du sicher, dass der auch weiter den Mund hält?“

Er lacht.

„Ganz sicher. Wir haben ihn uns neulich mal vorgeknöpft. Und ihm die Sache mit ein paar Ohrfeigen erklärt. Der weiß genau, was los wär‘. Er würde der Feme verfallen. Wir würden in kaltmachen. Keine Sau würde nach ihm krähen.“

„Hahn.“

„Was?“

„Es heißt Hahn.“

„Was heißt Hahn?“

„Ach, vergiss es.“

„Nerv mich jetzt nicht.“

„Du weißt, was auf Mord steht?“

„Klar weiß ich das. Und?“

Kurze Pause.

„War doch nur ein Flüchtling. Ein Nigger. Is‘ doch völlig egal um den.“

„Ja, isses.“

„Also.“

„Wir stehen ja auch hinter dir. Aber pass bloß auf in der nächsten Zeit.“

Er schaut auf seine hochgekrempelten Hosenbeine.

„Und lauf nicht mehr so rum.“

„Hier ist doch weit und breit keiner.“

„Trotzdem.“

Das sind keine Soldaten, das sind Nazis, denkt Marc. Die wandern hier einfach durch den Wald und reden über Mord.

„Und halt dich in nächster Zeit mal zurück. Eine Verhaftung wär‘ echt scheiße.“

„Schon klar.“

„Da könnte dann keiner mehr was für dich machen.“

„Okay, ich verstecke es ja schon.“

Er beugt sich nach unten und wickelt die Hosenbeine ab. Seine Waden leuchten hell im diesigen Wetter. Marc sieht die Tätowierung: einen Totenkopf mit Stahlhelm …

„Wann hast du denn den ersten Termin zum Überstechen?“

„Nächste Woche.“

Marc versteht die beiden jetzt nur noch schlecht.

„Wie viel Mal musst du hin, bis das Ding weg ist?“

„Muss man sehen. Das kann der erst nach der ersten Sitzung sagen.“

Marc sieht den beiden hinterher. Langsam entfernen sie sich. Schließlich verschluckt sie der Wald.

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