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Antifa-Roman

28 | Das Büchlein

Die beiden Nazis beobachten Stefan seit der Versammlung in der Schule sehr genau. Immer, wenn er den Schulhof verlässt, folgen ihm ihre Augenpaare. Sie notieren seine Wege und die Uhrzeiten. Offenbar hat die erste Abreibung nicht richtig gewirkt. Sie wollen ihn noch einmal angreifen.

Stefan fährt seit dem Überfall auf ihn einen kleinen Umweg nach Hause. Zuerst ein Stück den Kurt-Schumacher-Ring hinunter. Dann biegt er ab ins Wellritztal. Dort sind Wiesen angelegt und es wachsen Bäume. Ein schöner Grünstreifen. Seit er bemerkt hat, dass die Nazis ihn ausspähen, nimmt er immer dieselbe Route.

„Der ist wie ein Uhrwerk“, sagt der eine zu dem anderen. „Sehr praktisch.“

„Was für ein Langweiler“, antwortet sein Kumpel. „Dabei sieht er mit seinen roten Zottelhaaren doch aus wie so ein typischer linker Chaot.“

Stefan spielt mit ihnen. Er mimt den eindimensionalen Hippie. Berechenbar. Gleichförmig. Nichtssagend.

Die beiden Nazis planen offenbar einen erneuten Angriff. Aber dieses Mal bin ich vorbereitet.

Seiner Wut kommt das gerade Recht. Die Nazis sollen genau das sehen, was sie sehen. Sie sollen sich sicher fühlen. Stefan ist ihnen damit einen Schritt voraus. Er ahnt, wo sie losschlagen werden. Denn eine Stelle auf seinem Heimweg ist dafür am besten geeignet.

Biete ihnen etwas an! Denkt Stefan. Und drehe dann den Spieß um. Aus ihrem Überraschungsmoment muss mein Überraschungsmoment werden. „Wenn dein Gegner denkt, dass er dich überrascht, überrasche ihn. Dann wirkt die Überraschung doppelt gegen deinen Gegner!“

So stand das doch mal irgendwo in einem seiner Kampfsportbücher. Stefan hat sich nach dem letzten Angriff geschworen: Das hat einmal geklappt, aber kein zweites Mal. Vielleicht tut ihr mir den Gefallen und versucht es noch einmal. Dann werde ich reagieren. In Notwehr. Aber heftig. Nachdrücklich. Schmerzhaft. Nochmal liege ich nicht heulend auf dem Waldboden!

Stefans Hass ist grenzenlos. Doch er beherrscht sich, reißt sich zusammen, übt sich in Geduld. Immer wieder ruft er sich chinesische Sprüche seines Kung-Fu-Lehrers in Erinnerung: „Der Mann, der den Berg abtrug, war derselbe, der damit angefangen hatte, kleine Steine wegzutragen.“

Also wartet er. Jeden Tag radelt er mit seinem Mountainbike ruhig die gleiche Strecke zurück nach Hause. Er täuscht gelassene Routine vor. Seine Gegner sollen ihn als leichtes Opfer sehen – so wie beim letzten Mal.

Stefan hat es sich angewöhnt, eine alte schwarze Luftpumpe aus Metall beim Radeln in der rechten Hand zu tragen, und sie während der Fahrt quer über dem Lenker zu halten. In der Schule wird so viel geklaut, dass jedes abbaubare Teil sofort verschwinden würde. Manche schrauben sogar ihre Fahrradsättel ab …

So ist es für die Nazis nicht verwunderlich, dass Stefan seine Luftpumpe immer in der Hand hält. Siegessicher besteigen sie eines Tages ihr Mofa.

Aber noch ein Detail ist ihnen entgangen. Ein entscheidendes. An seiner Luftpumpe hat Stefan einen schmalen Streifen Lack abgeschmirgelt. Dort scheint das blank polierte Metall hervor. Es wirkt wie ein Spiegel. So kann er unauffällig beobachten, was sich hinter ihm auf der Straße abspielt. Er sieht immer das gleiche Bild: Ein Mofa mit zwei Typen taucht auf und verschwindet wieder. Einer trägt einen blaugestreiften Helm.

Es sind die beiden vom letzten Mal.

So auch heute. Wieder das Mofa. Es folgt es ihm in großem Abstand über eine längere Strecke. Es ist so weit. Stefans Herz rast. Jetzt ruhig bleiben.

Er fährt unter den Bäumen entlang. Es ist bewölkt. Kein Hundebesitzer geht heute hier spazieren.

Sie haben genau die vermutete Stelle ausgewählt, freut sich Stefan. Bis jetzt läuft alles nach Plan.

Schau in deinen Spiegel. Schätze die Entfernung. Auf den exakten Zeitpunkt kommt es an!

Stefan tritt gleichmäßig in die Pedale.

Nichts anmerken lassen.

Das Mofa kommt näher.

Noch 100 Meter.

Adrenalin überflutet Stefan.

Bleib ruhig. Warte auf den richtigen Moment.

80 Meter.

Der Fahrer gibt Gas.

60 Meter.

Ruhig bleiben!

40 Meter.

Weiter in die Pedale treten!

25 Meter.

Volle Konzentration!

Stefan umfasst die Pumpe.

Gleich sind sie da.

10 Meter.

Bereit sein!

5 Meter.

Stefans Körper spannt sich. Im Spiegel sieht er, dass sich der Beifahrer nach rechts lehnt. Er schwingt einen dunklen Gegenstand.

2 Meter.

Jetzt!

Stefan duckt sich tief auf seinen Lenker. Gleichzeitig wirft er seine metallene Luftpumpe wie einen Speer in das Vorderrad des Mofas. Ein Gegenstand rast über ihm vorbei. Er zieht beide Bremsen. Seine Reifen quietschen. Neben ihm splittert Metall. Das Vorderrad des Mofas blockiert, das Hinterteil steigt nach oben. Kurze Schreie, dann der Überschlag. Die Nazis fliegen aus dem Sattel, knallen auf den Weg und schlittern brüllend weiter. Das Mofa schlägt krachend auf die Beine des Fahrers. Stefan hört ein hässliches Knacken. Der Schrei verstummt. Der Fahrer ist ohnmächtig. Neben ihm liegt schmerzverzerrt sein Beifahrer. Er trägt einen blaugestreiften Helm und wimmert. Sein rechter Arm ist seltsam verdreht. Das T-Shirt zerfetzt, die Haut aufgerissen. Überall Blut. Benzin läuft aus der Maschine.

Stefan steigt vom Rad. Er zittert. Aber sein Plan hat funktioniert. Die Luftpumpe hat ganze Arbeit geleistet.

Langsam geht er auf die Nazis zu. Sein Herz überschlägt sich. Aber es breitet sich Genugtuung in ihm aus. Zwei aufgerissene Augen starren ihm aus dem Helm entgegen. Stefan erkennt sie wieder. Röchelnd liegt der Nazi auf der Seite und hält sich den Arm. Der schwarze Gegenstand liegt zwei Meter vor ihm. Stefan tritt auf ihn zu. Panisch schiebt sich der Nazi auf dem Rücken von ihm weg. Er hat Angst. Große Angst. Sein Kumpel liegt regungslos auf dem Bauch und atmet schwer. Stefan hebt den schwarzen Gegenstand auf.

Der sollte mich am Kopf treffen. Es ist eine Stahlfeder mit aufgeschweißter Metallkugel. Ein Totschläger.

Stefan blickt auf die Mordwaffe, dann auf den Nazi mit dem Helm. Er ist der Täter.

„Bitte tu das nicht. Bitte!“

„Und warum nicht?“ Stefan wiegt den Totschläger in der Hand.

„Ich bin doch wehrlos.“

Die Stahlkugel federt leicht.

„Das war nicht meine Idee!“

„Ihr Schweine kennt doch selbst keine Gnade.“

Die Metallkugel wippt stärker.

„Auf Wehrlose tretet ihr doch am liebsten ein. Warum soll ich dich jetzt nicht einfach plattmachen?“

Wütend geht er einen Schritt auf den Nazi zu.

„Wessen Idee war das?“, brüllt er.

Der Nazi sagt kein Wort mehr. Tränen laufen aus seinen Augen. Er hält sich den ausgekugelten Arm.

„Wer hatte die Idee?“

Der Nazi sagt nichts.

Stefan lässt den Totschläger pfeifend durch die Luft sausen.

„Er war’s!“

Der Nazi zeigt zitternd auf den bewusstlosen Fahrer.

Verrätersau, denkt Stefan.

„Wie heißt er?“

„Kevin Schmidt.“

Du arme Wurst. Verrätst aus Angst deinen Freund.

„Und du?“

„Michael Wollner.“

Stefan betrachtet den Totschläger.

Eine effektive, in Deutschland verbotene Waffe. Schläge sind auf jedes Körperteil sehr schmerzhaft, Treffer am Kopf wirken tödlich. Erfunden und eingesetzt von der SS.

Stefan blickt den Nazi kalt an.

„Du kennst die Wirkung von einem Totschläger?“

Michael Wollner liegt völlig hilflos vor ihm. Das Gesicht schmerzverzerrt, die Augen vor Angst aufgerissen.

Stefan tippt mit seiner Fußspitze an den verletzten Arm des Nazis. Er schreit.

„Ich habe dich etwas gefragt.“

Aus Stefans Blick sprüht Hass.

„Ja, kenne ich.“

„Du wolltest mich umbringen.“

„Nein, nur ein bisschen Angst einjagen.“

Wollner winselt.

„Angst einjagen? Mit einem Totschläger?“

Stefan steht jetzt genau über ihm. Nur der Helm bietet noch einen gewissen Schutz.

„Das kannst du nicht machen“, stammelt der Nazi hilflos.

„Und warum nicht?“

Stefans schaut auf ihn herunter.

Michael Wollner rollt sich zusammen. Er schreit vor Schmerzen.

„Lass mich in Ruhe, bitte.“

„Sag mir warum?“

„Bitte tu mir nichts! Ich schwöre dir, wir machen in Zukunft einen großen Bogen um dich.“

„Das reicht mir nicht.“

„Wir erzählen niemand von der Sache hier. Wir sind einfach so hingefallen.“

Stefan hebt den Arm zum Schlag. Panisch greift Michael Wollner in seine Jackentasche.

„Hier, nimm das. Das ist unsere Adressliste. Alle Mitglieder mit Namen, Adresse und Telefonnummern.“

Stefan nimmt das kleine Büchlein und schlägt es auf. Seiten voller Namen und Adressen. Daneben Bemerkungen wie „zuverlässig“, „kampfsporterfahren“ oder „reiche Eltern“.

Stefan blickt Michael fragend an. Kurz schaut der zu seinem ohnmächtigen Kameraden.

„Ich bin der Kassenwart. Peter Müllers rechte Hand. Nimm das Buch, aber lass mich in Ruhe. Bitte. Und verrat mich nicht! Bitte. Die bringen mich um!“

„Wenn ich dich noch einmal außerhalb der Schule näher als zehn Meter in meiner Umgebung sehe, dann bist du fällig! Du dreckiges Faschoschwein. Ist das klar? Dann schicke ich das Buch mit besten Grüßen von dir an deinen Führer.“

„Ja, ich schwör‘s. Zehn Meter. Okay.“

Stefan geht in die Hocke und sieht dem Nazi in die Augen.

„Stehst du auch da drin?“

„Ja.“

„Dann werde ich dich vielleicht irgendwann einmal anrufen und etwas fragen. Und komm dann bloß nicht auf die Idee, mich anzulügen.“

Er tippt erneut an den ausgekugelten Arm.

„Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Ich schwör‘s“, brüllt der Verletzte.

Stefan steht wortlos auf. Er steckt den Totschläger und das Büchlein in die Jacke, besteigt sein Mountainbike und radelt davon. Sein Herz galoppiert noch immer. Aber er ist sehr zufrieden.

Als er von der Straße abbiegt, hört er in der Ferne Martinshörner.

Wie lange die beiden Arschlöcher wohl im Krankenhaus liegen müssen?, fragt er sich.

Als Marc am nächsten Morgen auf dem Pausenhof steht, tritt sein Freund Stefan neben ihn.

„Ich muss mit dir reden. Allein!“

Marc schaut ihn fragend an.

„Lass uns einen Spaziergang machen.“

„Stefan, wir haben nur 20 Minuten Pause! Muss das sein?“

„Ja, bitte. Lass dein Handy hier. Eine tragbare Wanze möchte ich gerade nicht dabei haben. Es dauert nicht lang.“

Marc nickt Vera kurz zu.

„Kannst du das bitte mal nehmen. Ich bin gleich zurück!“

„Das kannst du selber tragen. Ich bin doch nicht deine Handysklavin!“

„Vera, bitte. Wir möchten uns ungestört unterhalten“, sagt Marc eindringlich.

„Äh. Ach so. Okay! Sonst alles klar?“ Sie errötet leicht. Ihre doofe Reaktion ist ihr peinlich.

„Ja, nur Stefan hat irgendwas auf dem Herzen. Ich bin zu Mathe wieder da.“

„Gut“, sagt sie und haucht ihm einen Kuss auf die Wange. „Hab dich lieb.“

„Ich dich auch!“

Die beiden Jungs verlassen das Schulgelände und laufen durch das Westend.

„Ist dir bei den Nazis etwas aufgefallen?“, fragt Stefan.

„Nein, wieso?“

„Zwei fehlen.“

„Kann sein, keine Ahnung. Ich zähle nicht täglich nach. Ist irgendwas los?“

Stefan bleibt stehen. Er schaut Marc an.

„Du bist mein Freund. Du bist verschwiegen. Ich muss dir jetzt etwas anvertrauen.“

„Was?“

„Versprich, dass du es für dich behältst.“

„Ja klar, mach ich!“

„Und auch kein Wort an Vera!“

„Ehrenwort!“

Dann erzählt Stefan Marc detailliert, was sich gestern nach der Schule ereignet hat: der Angriff, seine Falle, die verletzten Nazis, der Totschläger, das Büchlein.

„Das ist doch nicht dein Ernst?“ Marc schaut Stefan skeptisch an. „Du willst mich verarschen?!“

Stefan zieht das Büchlein aus der Jacke.

„Hier steht alles drin, mindestens 30 Namen. Damit kennen wir nun einen großen Teil der örtlichen Kameradschaft. Wenn die das mitkriegen, ist dieser Michael Geschichte.“

„Warum hat er dir das gegeben?“

„Mann, der hatte eine Scheißangst“, sagt Stefan. „Ausgekugelter Arm und einer mit seinem Totschläger über ihm. Das ist eine verdammt beschissene Position!“

Marc sieht Stefan unsicher an.

„Mir ist nicht wohl bei der Sache.“

„Wieso? Ich habe denen mal gezeigt, dass wir auch anders können und nicht nur Opfer sind!“

„Ja Stefan, das ist eigentlich geil. Es ist gut, dass du deine Rache bekommen hast. Es ist gut, dass die beiden Wichser im Krankenhaus liegen. Aber denk doch mal nach: Die wollten dich umbringen. Einfach so. Das ist doch krank! Die sind völlig irre!“

„Das stimmt. So habe ich es noch gar nicht gesehen.“

„Außerdem wird da jetzt noch irgendwas passieren.“

„Nö, glaube ich nicht.“

„Wieso?

„Der Wollner wird nichts sagen. Die anderen töten ihn, wenn die rauskriegen, dass er uns das Buch gegeben hat.“

„Da hast du recht“, sagt Marc.

„Aber was machen wir jetzt mit dem Totschläger und dem Büchlein? Das ist mein Problem. Ich will das nicht zuhause haben.“

„Am besten gebe ich das alles Annette. Ich habe so ein Gefühl, als wüsste sie, wo man so etwas sicher aufbewahren kann.“

„Aber du sagst ihr nichts?!“

„Witzbold, wie soll ich das denn machen?“

„Dann brauchen wir eine andere Idee.“

„Weißt du Stefan, ich glaube, die Sache wird langsam zu groß für uns. Ein Mordanschlag! Was, wenn es morgen gegen Elena geht? Oder Petra? Wir brauchen Hilfe. Schlagkräftige Hilfe!“

„Und woher willst du die nehmen?“

„Lass mich nachdenken. Zuerst gebe ich mal die Sachen Veras Mutter. Einverstanden?“

Stefan nickt. Er hat auch keinen besseren Einfall.

„Aber ich muss ihr sagen, was das ist.“

„Und?“

„Das geht nicht, ohne dass ich ihr die Geschichte erzähle.“

„Das geht nicht!“

„Wir müssen ihr vertrauen.“

Stefan zögert.

„Komm Mann, deinen Namen erwähne ich nicht.“

„Die ist doch nicht doof …“

„Aber verschwiegen, glaub mir.“

Stefan atmet tief durch.

„Na gut“, sagt er. Dann gehen sie zurück zur Schule.

Nach dem Unterricht ist Marc tief in Gedanken versunken. Er macht sich Sorgen. Der Totschläger und das Büchlein wiegen schwer in seiner Tasche.

Die Sache mit den Scheiß-Nazis wird immer krasser. Da rollt etwas auf uns zu, was unsere Kräfte übersteigt. Was können wir tun? Wohin sollen wir uns wenden? Wer kann uns beschützen?

Als er bei Vera klingelt, hört er die Stimme der Mutter über die Gegensprechanlage.

„Hallo Annette. Ich bin es, Marc.“

„Komm hoch.“

Der Türöffner summt. Marc steigt die Treppen nach oben. Annette öffnet.

„Vera ist noch nicht da!“

„Ich weiß!“, sagt Marc. „Sie ist noch mit Elena unterwegs. Aber ich würde gerne mal mit dir sprechen. Gilt dein Angebot der Vertrauten noch?“

„Hallo? Na klar! Das hat keine Halbwertszeit! Was ist los? Ärger mit Vera?“

„Nein, überhaupt nicht.“

Da klappert es im Schloss. Vera öffnet die Tür. Verdattert schaut sie Marc an.

„Du hier?“

„Äh, ja.“

Erst da bemerkt sie das Schweigen von Marc und ihrer Mutter. „Störe ich?“

„Marc hat etwas auf dem Herzen“, sagt ihre Mutter.

„Aha, und da geht er zu meiner Mutter, anstatt zu mir“, sagt sie schnippisch. „Ganz toll! Das fängt ja gut an!“

„Hey, was soll das?“, fragt Marc angesäuert. „Du weißt doch gar nicht, um was es geht.“

„Und weißt du was? Ich will es auch gar nicht wissen.“ Damit dreht sie sich um und stapft in ihr Zimmer. „Es ist mir scheißegal. Mach doch mit meiner Mutter, was du willst, Arschloch.“

„Ach du Scheiße“, flucht Marc und läuft ihr hinterher.

Als er die Tür öffnet, erwartet sie ihn mit einem lauten „Hau ab!“

„Vera, jetzt hör mir doch mal zu.“

„Warum? Du vertraust mir nicht. Das ist ein ganz schön beschissenes Gefühl!“

„Ich wollte mit deiner Mutter reden, weil ich eine Sorge habe, die mir zu groß ist. Und dir auch“, sagt er verzweifelt.

Vera schaut ihn fragend an.

„Und meine Mutter kann es?“

„Das hoffe ich.“

Er beißt sich auf die Unterlippe.

„Ich muss darüber reden Vera, ich muss. Aber du darfst es eigentlich nicht hören. Ich habe es versprochen.“

„Wem?“

„Stefan.“

„Betrifft es uns als Gruppe?“

„Ja, allerdings.“

„Dann sollte ich es vielleicht sogar unbedingt hören, egal was du versprochen hast.“

„Vielleicht hast du da recht. Mir ist auch nicht wohl bei der Geheimniskrämerei.“

„Meine Reaktion tut mir leid. Ich sehe, dass du innerlich mit dir kämpfst.“

„Ja, es ist gerade hart für mich.“

Vera steht auf und küsst ihn. Hand in Hand gehen sie in die Küche. Als alle eine Tasse süßen Minztee in der Hand halten, beginnt Marc.

„Sind Handys im Raum?“

„Ja, meins habe ich in der Tasche,“ antwortet Vera.

„Meins liegt unten in der Schneiderei.“

Wortlos nimmt Marc Veras Handy, schaltet es aus und trägt es in ihr Zimmer. Dort stopft er es unter die Bettdecke und schließt die Tür.

Dann erzählt er die ganze Geschichte von Stefan. Als er endet, starrt ihn Vera mit offenem Mund an.

„Und ich hatte ihm versprochen, es niemanden zu sagen, nur Annette,“ ist sein letzter Satz.

„Ich war wirklich unfair zu dir“, flüstert Vera. „Tut mir echt leid!“

Er nimmt wieder ihre Hand, sagt aber nichts.

„Wieso hat Stefan das nicht allen erzählt?“, fragt Vera. „Ich finde das ein Unding, dass er immer alles ohne uns macht. Seine Sachen einfach so durchzieht, der blöde Macker!“

„Wann hätte er es denn erzählen sollen?“, fragt Marc zurück. „Das passierte gestern! Ich glaube, er will uns keine Angst machen. Und er weiß selber nicht, was er davon halten soll!“

„Ja, aber genau deshalb geht es mir so, dass …“

„Vera, bitte, Halt!“, Annette fällt ihr ins Wort. „Es geht hier jetzt wohl nicht mehr um Befindlichkeiten, sondern langsam um euer Leben! Ihr seid alle in akuter Gefahr!“

Vera schweigt. Sie sieht ihre Mutter erwartungsvoll an.

„Wir haben jetzt folgende Situation.“ Marc ist über Annettes Klarheit überrascht. Ihre Weichheit ist wie weggewischt. „Zwei Angriffe auf Stefan. Der zweite hätte tödlich ausgehen können. Zwei schwer verletzte Nazis, weil Stefan vorbereitet war. Dann einen erbeuteten Totschläger und eine Liste mit Nazinamen.“

„Ja und? Wissen wir doch. Und weiter?“ Vera ist ziemlich durcheinander.

Annette ignoriert ihre Tochter. Sie ist die Ruhe selbst. „Es weiß noch keiner von der Attacke. Also sind die anderen Nazis auch nicht gewarnt. Und der eine versprach, nicht darüber zu reden.“

„Wer’s glaubt …“

„Er ist doch dann selber dran, wegen des Büchleins“, sagt Marc.

„Ja, weiter“, fordert Vera ungeduldig.

„Die zwei haben vermutlich auf eigene Faust gehandelt. Aber bei der Gruppe ist es sicher Konsens, dass ihr eine Abreibung verdient habt.“

„Ach so. Na dann bin ich ja wirklich beruhigt!“, pöbelt Vera los. „Es hätte also auch mich treffen können. Da bin ich ja froh, dass immer nur Stefan bevorzugt wird.“

Sie schaut ihre Mutter böse an.

„Was soll das? Auf was willst du hinaus?“

„Jetzt warte es doch einmal ab, Kind!“

„Nenn mich nicht Kind!“

Marc muss lächeln.

„Okay, sorry Vera. Aber jetzt halt einfach mal kurz die Klappe.“ Marc erkennt Annette kaum wieder. „Ihr müsst erst einmal Zeit gewinnen. Die wissen doch ganz genau, dass ihr ihnen kein Paroli bieten könnt. Trotzdem müsst ihr ihnen jetzt Angst machen, bis ihr vielleicht genug seid, um es wirklich mit ihnen aufnehmen zu können.“

„Toller Vorschlag. Dann gehen wir wohl zu denen im Büchlein hin und erschrecken sie mal so richtig. Brüllen durch den Briefschlitz, oder schreiben ihnen eine gemeine Mail. Wahrscheinlich löst sich die Kameradschaft dann sogar sofort auf“, wettert Vera. „Tolle Idee, Mama!“

„Vera, sei doch nicht so zynisch. Dein Gedanke ist gar nicht so dumm. Denk doch mal nach. Nazis sind in Wirklichkeit Weicheier. Angst ist bei ihnen ein ganz wichtiges Erziehungsinstrument. Wie sollen denn sonst Befehl und Gehorsam funktionieren? Und welchen Charakter muss man haben, um sich freiwillig den Befehlen eines anderen unterzuordnen?“

Sie macht eine Pause und schaut Vera und Marc an.

„Natürlich könnt ihr ihnen keine Angst machen. Nicht ihr sechs. Aber denkt doch mal nach. Ihr habt doch Freunde.“

„Unsere Freunde? Die kannst du vergessen. Das ist eine Handvoll unerfahrener Schüler. Die machen niemandem Angst.“ Marc ist irritiert.

„Ich meine Genossen. Antifaschisten. Ich meine Mîrhat und seine Leute.“

„Wir sollen die Kurden fragen?“

„Wieso nicht? Die sind knallhart, das kann ich euch sagen.“

„Und was sollen die machen?“

„Das sind ehemalige Partisanen, die können alles machen.“

„Mama, sollen wir hier Schützengräben ausheben?“

Annette lacht. „Nein, ich denke an Hausbesuche.“

Marc sieht sie an. Seine Miene hellt sich auf.

„Die gehen bei ein paar Nazis mal persönlich vorbei, und sagen ihnen, dass sie sie im Blick haben. Irgendwelche aus dem Büchlein. Die sagen denen, dass sie sie kennen und dass sie fällig sind, wenn demnächst irgendetwas Komisches passiert.“

„Und das würden die machen? Ich meine, die kennen uns doch gar nicht.“

„Marc, die machen das! Die würden jetzt nicht einen eurer Lehrer erschrecken, aber für irgendwas gegen Nazis sind die immer zu haben.“

„Sie müssen ja auch nicht einmal was Verbotenes tun.“

„Eben. Und die Kurden hassen Faschisten. Die Grauen Wölfe ermorden täglich ihre Freunde und Genossen in der Türkei. Das sind alles Mörder, ihre Ideologie ist ein Verbrechen. Egal wo auf der Welt!“

„Mama, ich glaube, du hast recht. Und ich glaube auch, dass das wirkt. Deine Idee ist klasse!“

Annette schaut ihre Tochter zärtlich an. „Danke“, sagt sie und nimmt sie in den Arm.

„Nachher treffe ich mich sowieso mit Mîrhat, im „Forsthaus Waldblick“. Dort kann man ungestört reden. Kommt doch mit. Dann können wir alles besprechen. Und lasst eure Handys vorsichtshalber daheim … !“