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Wir haben keine Zeit zu verlieren

Ein Gespräch mit dem Aktivisten Tomás über die Situation der baskischen Linken einige Jahre nach Einstellung des bewaffneten Kampfs

Möchtest du dich kurz vorstellen und etwas über deine Person sagen? Wo bist du aktiv?

Ich bin in der Kleinstadt Hondarribia im Baskenland aufgewachsen und lebe jetzt wieder dort. Mit 14 begann mein Politisierungsprozess, der bis heute anhält. Damals sah ich fast jeden Tag nach der Schule die spanische Polizei auf demonstrierende Arbeiter:innen einprügeln. Streikende Arbeiter:innen, AKW-Gegner:innen, Demos für die baskischen Gefangenen oder die baskische Sprache standen damals auf der Tagesordnung. Zurzeit bin ich auf lokaler Ebene in der Soli für die politischen Gefangenen aktiv und auf gesamt-baskischer Ebene arbeite ich in einer Initiative mit, bei der wir versuchen, der entfremdeten Basis der ehemaligen baskischen Linken neue revolutionäre Perspektiven zu bieten, sowohl ideologisch als auch organisatorisch.

Wie kommt es, dass du so lange in Deutschland gelebt hast?

Nach meiner ersten Inhaftierung 1998, und wissend, wie der Prozess ablaufen würde, also dass die unter Folter erpressten Aussagen als einziges Beweismittel gelten würden, habe ich mich dazu entschieden, mich nach Deutschland abzusetzen.

An welchem Punkt befindet sich die baskische Linke?

Zuallererst: Wenn ich von „baskischer Linke“ spreche, meine ich die Linke, die für ein selbstbestimmtes/unabhängiges Baskenland eintritt. Daneben gibt es noch kleinere Gruppen, die sich am spanischen oder französischen Staat orientieren. Nach dem Ende des bewaffneten Kampfs hat der reformistische Flügel sehr geschickt die Führung und die Macht in sämtlichen Bereichen der ehemals starken linken Bewegung übernommen. Die politischen Schwächen der Bewegung während der letzten 20 Jahre haben zu einer Mischung aus Loyalität und Apathie geführt, die eine Neuausrichtung und Reaktivierung der Aktivist:innen sehr schwer macht.

Welche Konzeptionen und Strategien gibt es? Welche Perspektiven siehst du, auch vor dem Hintergrund der ökonomischen Entwicklung und im internationalen Kontext? Welche Kompetenzen, Erfahrungen, Kapazitäten usw. werden dafür gebraucht?

Innerhalb der baskischen Linken gibt es derzeit zwei große organisierte Richtungen: die reformistisch gewordene ehemalige Unabhängigkeits-Linke und den neuen „Sozialistischen Block“ um die neue kommunistische Jugendorganisation GKS. Daneben arbeiten etwa vier verschiedene Initiativen an der Wiederbelebung der baskischen Linken. Die objektiven sozialen Bedingungen sind für linke Projekte eigentlich ideal, und es gibt im Baskenland auf lokaler Ebene auch tatsächlich unzählige Widerstands- und transformatorische antikapitalistische Aufbauinitiativen. Doch es hapert an der Koordination. Das Problem ist, wir haben keine Zeit zu verlieren, weil der soziale Absturz breiter Bevölkerungsteile schon lange begonnen hat und rechte und bürgerliche Strukturen in Richtung sozialem Faschismus arbeiten, der jederzeit dominant werden kann, wenn wir Linke nicht rechtzeitig Alternativen bieten. Wir brauchen überall in Europa eine ideologische Erneuerung der Linken, in der wir linke Werte und Ziele aktualisieren, weg vom Parolen-Antikapitalismus hin zur Realisierung praktischer Alternativen zum anlaufenden Endzeit-Neoliberalismus. Wir brauchen allumfassende, funktionierende Modelle, die den verelendenden Menschen einen möglichen Weg zeigen und bieten, von den verschiedenen Souveränitäten bis zur anti-patriarchalischen gesellschaftlichen Umgestaltung. Das ist natürlich in einem kleineren Rahmen wie dem Baskenland einfacher zu realisieren. Aber die Versuche laufen ja auf lokaler Ebene, können also überall ausprobiert werden. In diesem Konzept fällt dem Baskischen Feminismus eine besonders wichtige Rolle zu.

Zwischenfrage: Was meinst du mit „sozialem Faschismus“?

Ich überspringe mal ganz „unelegant“ die Definition von Faschismus. Der Begriff „sozialer Faschismus“ ist denklich unscharf, obwohl er in letzter Zeit wieder öfter benutzt wird. Ich denke, der Sinn liegt erst mal darin, gerade angesichts des Erstarkens der Rechten, diese vom historischen Faschismus der 1920er-1940er Jahre und dem „Neofaschismus“ der 1970er–1990er Jahre abzugrenzen. Andererseits ist der derzeitige „Rechtsruck“ weniger von einer Partei oder Bewegung getragen, sondern von gesellschaftlich mehr oder weniger verankerten Sichtweisen und Reflexen (beispielsweise die Ursache von Problemen bei anderen zu suchen). Diese werden – meiner Ansicht nach – vom Frust gegenüber dem Neoliberalismus und der billigenden Haltung des Reformismus verstärkt und ausgeweitet, von der Verwirrtheit der Linken verstärkt und von der Rechten ausgenutzt. Drittens wird der sich anbahnende „Faschismus“ (wir haben noch keinen besseren Begriff) formal vermutlich wenig mit dem Klassischen zu tun haben. Genau wie eine neoliberale Umschichtung des Patriarchats denkbar ist, wird sein autoritärer Ausweg diskursiv wahrscheinlich nicht mehr auf Nation und „Rasse“ gründen, sondern andere Formen und Handlungsweisen aufweisen. So könnte es beispielsweise sein, dass sich der „soziale Faschismus“ weder geografisch noch kulturidentitär ausrichtet, sondern sich gegen bestimmte soziale „Randschichten“ richtet, die, je nach Bedarf, ausgegrenzt und in irgendeiner Form „ausgemerzt“ werden, um das System am Laufen zu halten. Und die nächste Frage wäre dann, ab welchem Punkt wir überhaupt nicht mehr von Kapitalismus sprechen werden können und sich ein neues Herrschafts- und Ausbeutungssystem herausbildet. Oder wir schaffen es, eine vielfältige, linke, demokratische Alternative in die Wege zu leiten!

Wie wird der Begriff des Feminismus innerhalb der baskischen Bewegung verwendet, was ist der diesbezügliche Stand der Diskussion?

Der Begriff Feminismus verbindet ja eine Vielfalt von Strömungen und Ausrichtungen. Unter dem Motto „Salda badago“ haben im November 2019 im baskischen Durango über 3000 Feministinnen drei Tage lang sämtliche aktuelle Themen diskutiert und zu einigen gemeinsamen Grundprinzipien gefunden: Migration, Arbeit, Pflege, Zeitbegriff, Aktivismus-Modell, Umwelt, Konsum, Gesundheit, Bildung, Décroissance, Stadt-Land-Gegensatz usw. Als Zusammenfassung kann man sagen, dass die Ziele der Befreiung der Frauen und der Aufbau einer gleichberechtigten Gesellschaft nicht im Kapitalismus stattfinden können. Und dass die neue, gleichberechtigte Gesellschaft auf umfassenden feministischen Prinzipien gründen muss: das Leben als Mittelpunkt aller menschlicher Aktivität und die Prinzipien der feministischen Ökonomie als Leitfaden für die Umgestaltung der Gesellschaft. Die Umsetzung ist natürlich nicht einfach, und die Schwächen der feministischen Bewegung selbst helfen nicht gerade dabei. Aber die baskischen Gewerkschaften sprechen heute bereits vom Gegensatz Kapital vs. Leben, da der Kapitalismus nicht nur ein Wirtschaftssystem ist, sondern ein alles Leben zerstörendes Herrschaftssystem. Der Gegensatz Kapital vs. Arbeit ist ein Teil davon.

Kannst du die theoretischen Grundlagen bzw. Programmatik speziell des angesprochenen „Baskischen Feminismus“ noch einmal genauer erläutern?

Ich bin nicht die geeignetste Person, um über den Baskischen Feminismus zu sprechen, und über die theoretischen Grundlagen kann ich nichts sagen, da ich die internen Debatten der letzten 20 Jahre nicht verfolgt habe. Aus sprachlichen Gründen folgen diese aber in der Regel eher lateinamerikanischen Debatten als nordamerikanischen, mitteleuropäischen oder asiatischen und afrikanischen Entwicklungen. Die feministische Bewegung ist stark zersplittert und in einigen Themenbereichen zerstritten. Ich richte mich nach den Ansichten, Forderungen und Zielen der Feministinnen, die in meinem politischen Umfeld aktiv sind, mit denen ich zusammenarbeite. Uns geht es darum, ein neues Gesellschaftsmodell nach feministischen Prinzipien umzusetzen, was nach den breiten Diskussionen im Baskischen Feminismus der letzten 40 Jahre nicht zu einem festen Programm geführt hat, aber mit der Zeit die Entwicklung gemeinsamer Grundsätze für die Praxis hervorgebracht hat (seit Dezember 1977 findet etwa alle 10 Jahre ein großer Kongress statt). Diese sind, wie erwähnt, das Leben in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Handelns zu stellen, und, diesem Prinzip folgend, in sämtlichen Bereichen des öffentlichen und privatem Lebens neue Modelle aufzubauen, die neben den spezifischen Bedürfnissen natürlich von Frauen auch jene gesellschaftlicher Minderheiten mit berücksichtigen. Sei es im Gesundheitswesen, die Organisation von Arbeit, der Zeitbegriff, was und wie und wo produziert wird, die Beziehung zu Umwelt und Natur, der Vorrang der Gemeinschaft, die Berücksichtigung zwischenmenschlicher Beziehungen oder der gleichberechtigte Zugang sämtlicher Menschen zu gesellschaftlichen und materiellen Ressourcen. Unter vielem anderen.

Welche Möglichkeiten und Risiken bieten Privatisierung und Transformation von Staatlichkeit bei Vorhandensein einer Massenbewegung?

Die Privatisierung von Staatlichkeit und des Konzepts von Demokratie verfolgt unter dem Neoliberalismus das Ziel, dem Kapital die Entscheidungen über unser aller Leben direkt zu überlassen. Bis ins kleinste Detail, bis in unsere intimste Sphären. Neben Repression und strukturellen Vorteilen wendet das Kapital unzählige Werkzeuge an, um uns Menschen seinen Prinzipien zu unterwerfen. Starke soziale Bewegungen haben die Möglichkeit, die Denk- und Handlungsweisen des Kapitals und seiner Mechanismen zu entlarven und neben Widerstand auch praktische Alternativen aufzubauen, ob im Kulturbetrieb, im Konsummodell, in der kollektiven Selbstbestimmung oder in der langfristigen Ausrichtung unseres Handelns. Und wir haben die Chance, die vom staatlichen Rückzug für das Kapital hinterlassene Machtlücken für unsere Ziele zu besetzen. Das können weder einzelne Organisationen noch Personen, nur das Kollektiv kann die Herausforderung bewältigen. Risiken gibt es bei einer Aktivierung breiter Menschenmassen nur, wenn seitens der Linken keine Auswege angeboten werden. Dann springt bekanntlich die Rechte mit ihren demagogischen Vorschlägen ein. Wir müssen aber auch die Widerstände bestimmter Teile der reformistischen und radikalen Linken überwinden, die es sich im Rahmen staatlicher kapitalistischer Strukturen bequem eingerichtet hat.

Wie beurteilst du das Verhältnis von Abwehrkampf, konkreten Projekten, Sozialismus und baskischer Unabhängigkeit? Wie ist die baskische Frage mit der sozialen Frage verbunden?

Die „baskische Frage“ ist nicht von den sozialen Forderungen und Zielen zu trennen. Im Baskenland leben Arbeiter:innen, die ihre eigene Zukunft bestimmen wollen, solidarisch mit sämtlichen Arbeiter:innen und Völkern der Erde. Die baskische Arbeiter:innenklasse hat ihre eigene Geschichte und Kultur. Und diese machen den Unterschied und die besonderen Rahmenbedingungen aus.

Kannst du diese besonderen Rahmenbedingungen kurz näher erläutern?

Die baskischen Industrie hat seit den 1910er Jahren viele Arbeitskräfte, insbesondere aus dem spanischen Staat, angezogen. Diese haben sozialistische Ideen mitgebracht, die schnell verinnerlicht wurden. So war das Baskenland bis in die 1970er Jahre eines der wichtigsten Zentren der heute sozialdemokratischen spanischen Gewerkschaft UGT (1888 gegründet), und die ehemals kommunistische Gewerkschaft CCOO wurde ab den 1960er Jahren in den baskischen Provinzen stark. Aber bereits 1911 hat die baskische bürgerliche Partei PNV eine Gewerkschaft gegründet, ELA, die sich vor ca. 20 Jahren radikal von ihren Ziehvätern befreit hat und heute eine konsequente links-reformistische Linie verfolgt, die in ihrer Praxis alle großen Gewerkschaften links überholt. Diese Mischung aus migrierten und angestammten Arbeiter:innen prägt die baskische Arbeiter:innenbewegung. Inzwischen stellen die beiden großen baskischen Gewerkschaften, ELA und die linke LAB, ca. 65 % der Betriebsräte und prägen mit ihren Forderungen, auch für politische, soziale und kulturelle kollektive Rechte, in sämtlichen Bereichen den Rahmen der baskischen Arbeiter:innenbewegung. Circa 42 % der Streiks im spanischen Staat findet im südlichen Baskenland statt, bei einer entsprechenden Bevölkerung von 7 %. Die Stärke der Bewegung hat dazu geführt, dass baskische Tarifverträge im Schnitt um ca. 15 % besser sind als spanische.

Wie ist dabei das Verhältnis der Basis, der sozialen Bewegungen zu institutionalisierter und Parteipolitik im Baskenland (Initiative von unten / Aufbau von Gegenmacht versus Wahlpartei)?

Die aktuelle reformistische Linie eines Teils der baskischen Linken hat sich von den sozialen Bewegungen verabschiedet und konzentriert sich auf die Arbeit in den bürgerlichen Institutionen, wo sie die Möglichkeit für kleine Veränderungen sieht. Massenmobilisierungen werden vertikal organisiert und sollen hauptsächlich die internen Bedürfnisse stillen. Unabhängige soziale Initiativen werden zwar immer wieder als Beispiel für eine lebendige und kämpferische Basis herangezogen, werden aber von den Parteistrukturen nicht unterstützt und manchmal sogar behindert. Der „Sozialistische Block“ andererseits bezieht seine Stärke aus der Jugendbewegung, hat es aber noch nicht geschafft, breiten und unabhängigen sozialen Bewegungen auf die Beine zu helfen. Für die revolutionäre baskische Linke ist aber klar: Die neue Macht, welche die Alternative zum Kapitalismus realisiert, wird aus den sozialen Bewegungen kommen, in Zusammenarbeit mit einer breiteren Demokratiebewegung, welche die Privatisierung des Demokratiekonzepts im Neoliberalismus aufhalten muss. Wir reden nicht mehr von Gegenmacht, sondern von Aufbaumacht.

Kannst du uns an konkreten Beispielen erläutern, was mit Aufbaumacht gemeint ist?

Im Baskischen sagen wir „Herri Boterea“, also Macht des Volkes, was ich im Deutschen aus historischen Gründen lieber mit „Aufbaumacht“ übersetzt habe. Jedes „Gegen“ birgt das Risiko, sich an dem zu orientieren, was man eigentlich ändern will, und sich davon bedingen zu lassen. Um eine wirklich neue, selbständige, unvoreingenommene Alternative aufzubauen, müssen wir uns gedanklich und sprachlich vom Bestehenden lösen. Im Baskenland haben wir dafür ein paar Beispiele, die mir inzwischen fast „zu beispielhaft“ vorkommen, weil wir es noch nicht geschafft haben, diese Modelle auf andere gesellschaftliche Bereiche auszuweiten. Und weil sich einige davon inzwischen in das bürgerliche Angebot eingereiht haben. Es geht einerseits um die Ikastolas, die baskischen Schulen, die ihren Weg bereits unter der Franco-Diktatur begonnen haben. Damals haben freiwillige Lehrer:innen die Kinder in ihren eigenen Wohnungen unterrichtet und dabei pädagogisch und inhaltlich fortschrittliche Konzepte angewendet. Der Unterricht findet in baskischer Sprache statt und dies stellt ein zentrales Element dar, was diese Schulen bis heute prägt. Schüler:innen der Ikastolas gelten als weltoffener, sozial engagierter, naturverbundener und allgemein kritischer. Das andere „stereotype“ Beispiel ist die 2005 im nördlichen Baskenland gegründete EHLG (Euskal Herriko Laborantza Ganbara), die baskische Landwirtschaftskammer, die von der Landwirte-Gewerkschaft ELB initiiert wurde. EHLG koordiniert und vertritt die Ziele der nord-baskischen Landwirte. Es handelt sich mehrheitlich um kleine Höfe, die oft von jungen Landwirten weiter- und immer öfter auch ökologisch bewirtschaftet werden. EHLG vertritt deren Interessen, verteidigt eine lokal orientierte, nicht-industrielle Landwirtschaft und ist inzwischen eine auch vom französischen Staat anerkannte Verhandlungspartnerin. Daneben gibt es die 2013 gegründete Gesellschaft Lurzaindia (= Landpflege), welche aufgegebene Höfe und Land kauft, um sie jungen Landwirten zu überlassen. Die Bauerngewerkschaft ELB, die das alles trägt, gibt sich weiterhin kämpferisch und hält zurzeit zwei Höfe besetzt. Diese sollten der Landwirtschaft entzogen und der Wohnraumspekulation überlassen werden, sprich, Baugesellschaften wollen dort Tourismuswohnungen bauen. ELB widersetzt sich auch regelmäßig dem französischen Staat, zum Beispiel, wenn dieser die industrialisierte Massentierhaltung durch Tiertötungen schützen will (bei Tierkrankheiten). Die baskischen Landwirte blockieren dann den Zugang von Polizei und Tierärzten zu den Höfen, wo es keinen Krankheitsausbruch gegeben hat. In der Regel erreichen sie es auch, verschont zu werden.

Handelt es sich bei der „Aufbaumacht“ um den eigentlichen Kern einer neuen Strategie?

Es gab und gibt in diesem Sinne keine Strategie. Ich denke, diese Initiativen sind die Folge davon, dass das Baskenland über Jahrhunderte wirtschaftlich und politisch Peripherie war, die Menschen auf sich selbst angewiesen waren, die Probleme kollektiv zu meistern gelernt haben bzw. sich dazu gezwungen sahen. Heute sind wir als Teil der EU nicht mehr so ganz Peripherie, und obwohl wir nicht zu den Entscheidungszentren gehören, sind wir heute ein nicht unwichtiges Glied in der neoliberalen Kette, insbesondere wirtschaftlich. Durch Industrialisierung und Urbanisierung sind traditionelle Organisations- und Handlungsformen schwieriger geworden, aber bestimmte Formen bestehen weiter, wie man an der Vielfalt kämpferischer Initiativen sehen kann, an der Organisation lokaler Feste oder an der Verbreitung von Genossenschaften.

Sprechen wir über den Gewaltverzicht bzw. die Auflösung der ETA: Wie wirkt sich der Wegfall der bewaffneten Organisation auf die Bewegung aus?

Das Ende des bewaffneten Kampfs hat uns die großartige Chance geboten, die linke Bewegung ideologisch und organisatorisch zu erneuern. Besonders in den letzten 20–30 Jahren des bewaffneten Kampfs hat es aus verschiedenen Gründen keine großen ideologischen Debatten und folglich keine Fortschritte gegeben. Leider haben wir es nicht geschafft, und für den öffentlich sichtbaren Teil der linken Bewegung gilt, dass, abgesehen von einer ideologischen Verarmung, eher die organisatorischen Muster der vergangenen Phase erhalten geblieben sind. Doch es geht voran, und es stehen bereits mindestens zwei gründlich erarbeitete Thesenpapiere für die Erneuerung der baskischen Linken zur Diskussion.

Welche Thesenpapiere sind das? Wer steht hinter diesen Papieren und welche inhaltliche Verortung und Ziele beinhalten sie?

Einerseits der revolutionäre Erneuerungsvorschlag Kimuak und andererseits die Gruppe, die vor einem Jahr das Thesenpapier Lurrari Lotuz vorgestellt hat. Genaueres kann ich dazu nicht sagen. Nur dass beide personell und ideologisch aus der Unabhängigkeits-Linken stammen und sich zum Teil noch dort verankert sehen.

Du sprichst von einer Chance, die der Wegfall der bewaffneten Gruppen geboten hat. Kannst du näher darauf eingehen, inwieweit eine militante Organisation nicht ein Schutz für Gegen- oder Aufbaumacht sein kann bzw. muss? Oder siehst du darin nur den Hang zu bewaffneter Stellvertreterpolitik?

Dass eine militante Organisation nicht ein Schutz für Aufbaumacht sein kann, das würde ich so nicht formulieren. Der bewaffnete Kampf bringt unterschiedliche Probleme mit sich, auf sehr verschiedenen Ebenen. Aber da man öffentlich nichts Positives darüber sagen darf, werde ich auch kritische Punkte nicht angehen.

Mit welchen Organisationen oder Bewegungen steht die baskische Linke im Kontakt? Wo vertritt sie ähnliche Positionen, welchen Austausch, welche wechselseitigen Lernprozesse gibt es?

Die reformistische Linke arbeitet natürlich mit vielen anderen links-liberalen Organisationen europaweit zusammen, hauptsächlich im institutionellen Rahmen. Ansonsten gibt es zwar ein breites internationalistisches Bewusstsein unter der Bevölkerungsmehrheit, für Kuba, Palästina oder Kurdistan. Organisatorisch sind aber eher kleine Gruppen aktiv, mit Ausnahme der Soli mit den Zapatisten, die bei ihrem Besuch dieses Jahr in Europa viele Menschen mobilisiert haben. Der Internationalismus leidet zurzeit im Baskenland unter der allgemeinen Schwäche der sozialen Bewegungen.

Die Linke generell befindet sich zurzeit in der strategischen Defensive. Welche Perspektiven und Möglichkeiten siehst du, um strategisch in die Offensive zu kommen? Welche Inhalte und Themen sind dabei wichtig?

Meiner Ansicht nach ist der Grundgedanke, dass der Kapitalismus nicht reformierbar ist. In der Folge müssen wir von der reinen Bekämpfung desselben zum Aufbau von Parallelstrukturen übergehen, die das Leben für alle Menschen ermöglichen. In sämtlichen Bereichen, die uns der Feminismus vorzeichnet. Das bedeutet, die Aktivist:innen der kommenden Jahre werden auch Genossenschafter:innen sein.

Welche konkreten Beispiele aus der Praxis können als Bezugspunkte dienen?

Wir alle kennen unzählige Initiativen und Genossenschaften, die im sozialen Bereich, in der Nahrungsmittelherstellung oder -verarbeitung tätig sind, Fahrradläden, Anwält:innen-Kollektive und auch Wohnungs- und Bau-Initiativen. Nun ist es an der Zeit, all diese auszubauen, aber weiter noch in andere Bereiche der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse vorzudringen: Gesundheit, Bildung, Produktion und Recycling, Finanzen. Um Erfahrung zu sammeln und um den Menschen in Absturzzeiten Alternativen vorzuleben. Dafür müssen wir auch Schnittpunkte mit schwächer politisierten oder weniger radikalen gesellschaftlichen Schichten suchen, soweit sie am weitreichenden demokratischen Umbau interessiert sind, um die Basis unserer Projekte zu erweitern.

Wie beurteilst du den angesprochenen Zusammenhang zwischen Feminismus, Genossenschaften und Parallelinstitutionen?

Ich denke, der Feminismus weist uns die Richtung vor, er bietet uns Ideen und eine globale Perspektive an, die fast alle heutigen Lebensbereiche und Herausforderungen aus der Klassenperspektive zusammenhängend interpretiert und Lösungswege anbietet. Die praktische Anwendung feministischer Prinzipien führt uns zur praktischen Umsetzung unserer Aufbaumacht.

Ausblick in die Zukunft vor dem Hintergrund der derzeitigen Krisen: Welche Entwicklung nimmt der Kapitalismus? Mit welchen staatlichen Antworten müssen wir rechnen?

Der Kapitalismus steuert ziemlich klar auf seine Selbstzerstörung als allgemeinem Herrschaftssystem zu. Mehrere existentielle Widersprüche sind unlösbar. Die Agenda 2030 aber lässt erahnen, dass es noch für längere Zeit hochkapitalisierte urbane Inseln geben wird, welche die Ausbeutung von Natur und Mensch weiter führen werden, auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung und der Erde und mithilfe stark militarisierter Strukturen. Die Rolle der klassischen Nationalstaaten ist auf dem Weg zu verschwinden. Kontrolle und Repression der Bevölkerung werden in den nächsten Jahren zu ihren Hauptaufgaben werden. Und klassische Bereiche wie Gesundheit und Bildung oder Nahrungsversorgung werden nicht einmal das Reproduktionsminimum erreichen. In diesem Kontext ist es wahrscheinlich, dass Teile von Staaten oder ganze Staaten praktisch von Kapitalgruppen übernommen werden, da sich die Staaten schon heute für viele Generationen bei ihnen abhängig machen. Die Frage ist, was danach kommt, was mit der Mehrheit der Menschen außerhalb der hochtechnologisierten kapitalistischen Zentren geschehen wird. Werden sie einfach als Menschen zweiter Klasse unter kapitalistischen Prinzipien weiterleben, mit der Hoffnung, ein paar Krümel zu ergattern? Oder stellen wir ihnen linke Alternativen zur Verfügung?

Für eine Linke in der BRD, die sich vorwiegend im urbanen Raum verortet, würde das sicherlich einen fundamentalen Perspektiv- und Paradigmenwechsel bedeuten. Bedeutet das in deinen Augen, dass wir alle nun aufs Land ziehen sollten, um dort neue soziale Kämpfe zu organisieren?

Vielleicht müssen wir mal über die Funktion urbaner Zentren im Kapitalismus sinnieren. In den Großstädten konzentrieren sich Kapital und Reichtum, der Konsum, aber auch die Armut und das Elend. Großstädte sind das vom Kapital bevorzugte Siedlungsmodell und dementsprechend wird seit Jahrhunderten die Landschaft organisiert und umgestaltet. Vielleicht kommt bei unseren Überlegungen heraus, dass wir mit unserer Anpassung an das kapitalistische Siedlungsprinzip diesen eher stützen als schwächen, da wir nur die vom Kapitalismus „großzügig“ überlassenen Freiräume nutzen und ansonsten darin unsere individuellen Ziele verfolgen. Ich werde niemanden überzeugen wollen, von der Stadt aufs Land (zurück) zu ziehen. Aber perspektivisch, sowohl in Richtung des Sturz des Kapitalismus wie des Aufbaus neuer, kollektiver Lebensformen, wo kann und wird dies stattfinden? Ja, letztendlich ist es für eine linke Person einfacher und bequemer, in eine Stadt zu ziehen, weil man dort rein rechnerisch auf mehr Gleichgesinnte treffen wird. Und weil von einer linken Weltsicht aus das Leben im doch ziemlich konservativen ländlichen Milieu eine Herausforderung darstellt und komplizierter ist und ganz andere soziale Kompetenzen erfordert. Die Frage ist, was uns kurz-, mittel- und langfristig unseren Zielen näher bringt, sofern wir unsere Ziele nicht bereits aufgegeben haben und diese zu bloßen Parolen verkümmert sind. Also wollen wir den Kapitalismus wirklich stürzen (was uns dazu zwingt, Alternativen auszudenken), oder sind wir einfach nur Querulanten, die letztendlich mit dem vorhandenen System gut auskommen? Auch in Kleinstädten und im ländlichen Gebiet gibt es linke Menschen und Initiativen, die großartige Arbeit leisten. Vielleicht ist das Problem, dass wir uns nicht die Mühe machen wollen, mit unseren Gleichgesinnten auszukommen …

Wir sehen momentan auch eine Zuspitzung imperialer und zwischenstaatlicher Konflikte bis hin zum Krieg und eine neue Blockbildung. Hierzulande ist eine klare antimilitaristische Position in Opposition zur hiesigen Regierung leider kein linker Konsens mehr. Wie wird dies in der baskischen Linken diskutiert?

In der baskischen Linken wird darüber leider kaum diskutiert. Aber auch sonst nicht. Wie bereits angedeutet, befinden wir uns noch auf einer meinungs- und diskussionsleeren Wolke. Die baskischen „linken“ Medien hadern zwischen der politisch korrekten Verurteilung des russischen Angriffs und der grundsätzlichen Ablehnung der NATO durch die große Mehrheit der baskischen Bevölkerung. Niemand hat hier all die letzten Kriege und ihre Anstifter aus dem Gedächtnis verdrängt: Jugoslawien, Libyen, Irak, Afghanistan, Jemen usw. Und die Konflikte um Palästina, Nicaragua, El Salvador, Kuba, Rojava, Donbass usw. sind auch sehr präsent. Die plötzliche einseitige Aufregung gegen Russland wirkt also ziemlich heuchlerisch. Auf der Straße herrscht etwas Mitleid gegenüber den leidenden Ukrainer:innen, aber auch viel Gleichgültigkeit infolge der ukrainischen Vorgänge der letzten Jahre. Wir wissen, dass, EU-Vorgaben umsetzend, auch hier Ukrainer:innen untergebracht sind. Das wird aber nicht öffentlich verbreitet, und aus genannten Gründen gibt es keinerlei Kontakte mit oder Unterstützung für diese Menschen, die im Vergleich zu außereuropäischen Migrant:innen privilegiert behandelt werden. Leider habe ich auch schon reaktionäre Kommentare gelesen, in Richtung „Wer weiß, wie es uns gehen würde, wenn wir nicht Teil der NATO wären …“. Die Positionen der französischen und der spanischen Regierung sind nicht ganz klar, und ihre konkreten Handlungen, was Boykott und Waffenlieferungen angeht, ist völlig intransparent. Von daher gibt es konkret nicht viel zu debattieren. Und den Nachrichten in den Medien wird generell kaum Glauben geschenkt. Jeder Mensch hier weiß, dass die Preissteigerungen und der Abbau von sozialen Leistungen nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben, sondern ganz der Profitgier des Kapitals folgen. Leider schaffen wir damit gerade mal die Abwehr neoliberaler Propaganda, nicht aber den nächsten Schritt zum Umdenken und Um-handeln.

Vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen dir eine erfolgreiche Rundreise durch die Bundesrepublik mit vielen weiterführenden Diskussionen.


Tomás ist politischer Aktivist und ehemaliger ehemaliger politischen Gefangener aus dem Baskenland. Er bereist Deutschland für eine Veranstaltungsreihe, auf welcher der Film „Bi Arnas“ gezeigt wird. Die Termine finden sich hier.


Das ist der dritte Teil einer Reihe zum Baskenland im Autonomie Magazin. Der erste Teil war ein Reisebericht, der zweite Teil ein Text mit Hintergrundinfos zur politischen Situation im Baskenland.

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